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Alles muss versteckt sein (German Edition)

Alles muss versteckt sein (German Edition)

Titel: Alles muss versteckt sein (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wiebke Lorenz
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unter meiner Decke bereitwillig Platz für sie.
    »Um Gottes willen!« Marie lässt die Kladde sinken. Was hat sie da gefunden? Was hat sie da, verdammt noch mal, gefunden? Sie kennt die Geschichte, natürlich kennt sie die, kann sich gut daran erinnern. Patricks erster Roman, er hat ihn ihr ja gezeigt. Und das hier? Ein Entwurf dafür, geschrieben aus der Ichperspektive? Marie nimmt die Kladde wieder zur Hand, blättert fahrig durch die Seiten. Überfliegt mit flackernden Blicken, was hier steht. Die Geschichte einer Liebe zwischen Bruder und Schwester. Zwischen Kindern, irgendwo liest sie, dass Vera erst acht ist, als all das anfängt, was in dieser Kladde steht. Acht. Ein kleines Mädchen. Ein kleines Mädchen, das nachts in das Bett seines Bruders klettert, weil es Angst hat. Weil es Nähe sucht. Weil es nach dem Tod der Eltern nicht allein sein will.
    Marie liest von harmlosen Küsse. Küssen, aus denen nach und nach mehr wird, erst ein bisschen Streicheln und dann, mit der Zeit, noch einmal mehr. Viel mehr. Zu viel. Und das, was sie hier in Händen hält, ist keine erfundene Geschichte. Es ist ein Tagebuch. Wirklichkeit.
    »Patrick«, flüstert Marie. »Was hast du getan? Was hast du deiner Schwester angetan?« Dieser Mann, dieser wunderbare Mann, den sie so sehr geliebt hat, hat seine eigene Schwester missbraucht? Und diesen Missbrauch auch noch an die Öffentlichkeit gebracht? Als Roman? Wie sein Bruder Felix den Mord an ihm!
    »Patrick!« Kein Flüstern mehr, sie schreit den Namen heraus.
    »Das war nicht Patrick.«
    Maries Kopf fährt herum. In der Tür steht Vera. Und lächelt, seelenruhig. »Das ist das Tagebuch von Felix.«
    »Ich … ich verstehe das nicht«, stottert Marie. »Was ist das?« Sie deutet auf den Karton. »Ich begreife das alles nicht!«
    »Wir erklären es dir.«
    »Wir?«
    »Hallo, Frau Neumann!« Hinter Vera taucht ein Mann auf. Und da erkennt Marie, dass das, was auf Veras Nachttisch liegt, das kleine schwarze flache Kästchen, gar kein MP 3-Player ist. Es ist ein Pieper. So einer, wie Marie ihn schon oft gesehen hat, in der Klinik trug jeder vom Personal so einen.
    Dr. Jan Falkenhagen, er ist es, der hinter Vera erscheint. Auch er lächelt freundlich, während er einen Arm um ihre Schulter legt.

16
    »Ich hab dir gleich gesagt, dass du Elli nicht abmelden sollst. Schätze, das war unser einziger Fehler.« Jan Falkenhagen wendet sich an Marie. »Oder, Frau Neumann? Sie haben doch sicher nach Ihrer Freundin Elli gesucht?« Marie nickt verwirrt.
    »Ja, habe ich. Aber ich verstehe nicht ganz … «
    »Nun«, unterbricht sie ihr früherer Psychiater. »Glückwunsch: Sie haben sie gefunden!«
    »Gefunden?«
    »Ich bin Elli«, sagt Vera. Sie geht zu dem kleinen Sofa unter der Dachschräge und setzt sich. Jan Falkenhagen bleibt weiterhin im Türrahmen stehen.
    »Du?«, fragt Marie. Vera nickt und schlägt die Beine übereinander. »Aber wie ist das möglich? Elli ist meine Freundin, sie hat mir geholfen! Sie war für mich da, sie hat mir doch alles erklärt, die Sache mit dem Denken und dem Tun … « Die Worte sprudeln nur so aus ihr heraus, sie kann sich gar nicht bremsen, der Schock, ihre wirren Gedanken, alles bricht sich Bahn. »Und die Sache mit den Aufnahmen, die Expositionsübungen, die mir helfen sollten, das war doch alles Ellis Idee … Elli … meine Freundin … « Ihr Redefluss erstirbt.
    »Ich hätte dir das gern erspart«, sagt Vera. »Es war dumm von mir, mich vom Forum abzumelden. Ich hätte dir einfach noch ein bisschen schreiben sollen, anstatt so wortlos zu verschwinden.« Sie zuckt mit den Schultern. »Aber ich dachte ja, wir brauchen Elli nicht mehr.«
    Wir.
    »Was … « Sie kommt ins Stocken. »Was hat Dr. Falkenhagen damit zu tun? Woher kennt ihr euch überhaupt?«
    »Ich bin schon lange Veras Therapeut«, sagt der Arzt. »Sie ist bei mir in Behandlung, seit sie achtzehn ist.«
    »Bei Ihnen in Behandlung?« Ihr Blick springt zwischen den beiden hin und her.
    »Ja«, bestätigt er. Dann geht er ebenfalls zum Sofa, setzt sich neben Vera und legt wieder den Arm um ihre Schulter. »So haben wir uns vor Jahren kennengelernt. Und dann irgendwann ineinander verliebt.« Er schenkt Vera einen zärtlichen Blick, dann sieht er Marie entschuldigend an. »Therapeut und Patientin, das geht eigentlich gar nicht, das war uns beiden klar. Und trotzdem ist es passiert.«
    »Therapeut, Patientin … «, wiederholt Marie. Sie begreift nicht, was hier vor sich geht. Sie wendet sich an

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