Alles über Elfen (German Edition)
haben) schöpfen bei ihren Ermahnungen aus einem Fundus an Erfahrungen, der mehrere Menschenalter umfasst. Sprich: Für einen Elfen gibt es nahezu kein Entrinnen, sein eigenes Verhalten nahezu pausenlos mit dem seiner Ahnen und Erzeuger abzugleichen. Das mag nervig klingen, lehrt aber sicher auch eine gewisse Demut.
Kurzum: Das Gerechtigkeitsverständnis der Elfen wird in weiten Teilen sicherlich auch davon geprägt, dass Ereignisse – erfreuliche wie tragische gleichermaßen – nicht so schnell in Vergessenheit geraten können, wie es unter uns Menschen der Fall ist. Noch dazu ganz ohne die Notwendigkeit, umfangreiche Chroniken anzulegen oder die eigene Existenz sonst irgendwie für die sogenannte Nachwelt umfassend dokumentieren zu müssen. So ist jeder Elf im Grunde sein eigener Geschichtsschreiber und zugleich Erbe und aktiver Förderer eines kulturellen Gedächtnisses, vor dessen schieren Ausmaßen man als Mensch nur schwindeln kann. Lassen Sie mich das an einem Beispiel erläutern: Schätzen wir die Lebenserwartung eines gewöhnlichen Elfen doch einmal ganz konservativ auf fünfhundert Jahre (und damit liegen wir noch sehr deutlich in einem Bereich, in dem viele Elfen möglicherweise von einem tragisch frühen Dahinscheiden sprechen würden). Wenn man das auf einen Menschen übertragen würde, der nun unmittelbar davorsteht, seine sterbliche Hülle abzustreifen, dann hätte diese Person unter anderem (!) die folgenden Ereignisse allesamt als Zeitzeuge miterleben können:
die Ausbreitung der Europäer auf die beiden amerikanischen Kontinente,
den Dreißigjährigen Krieg sowie den Ersten und den Zweiten Weltkrieg (um nur eine kleine Auswahl an derlei verheerenden Konflikten zu treffen),
den Jungfernflug der Montgolfiere, die ersten Flugversuche der Gebrüder Wright und die erste Mondlandung,
die Erstaufführung sämtlicher Stücke von Dramatikern wie Shakespeare, Goethe, Schiller, Brecht und vielen anderen,
den Aufstieg und den Fall des sogenannten Ostblocks,
die komplette Entwicklung der modernen Fantasyliteratur von der Stunde null an und noch unvorstellbar vieles mehr.
Wer unter dem Eindruck all dieser Geschehnisse nicht irgendwann eine Sicht der Dinge entwickelt, die einen dazu anleitet, sein eigenes Verhalten in jeder Situation stark zu reflektieren, dem ist wahrscheinlich nicht mehr zu helfen. [Christiansen: Oder man wird eben insgesamt ein wenig merkwürdig. Wie die Spitzohren]
Die elfische Vorstellung von Gerechtigkeit und gerechtem Handeln kreist um den Anspruch, jederzeit bereit zu sein, persönliche Verantwortung zu übernehmen – auch und gerade für andere, aber ebenso für die Natur und die Umwelt in ihrem weitesten Sinne. Das Schöne Volk hat offenkundig begriffen, dass niemand allein für sich als isoliertes Individuum existiert und stattdessen jeder Einzelne in Strukturen und Systeme eingebunden ist, die letzten Endes bedeutsamer sind als er selbst. Damit einher geht zugleich eine Einsicht: Jeder Einzelne tut gut daran, selbst dafür Sorge zu tragen, dass die Strukturen und Systeme, auf die er einen direkten Einfluss besitzt, so ausgestaltet werden, dass sich alle darin so wohl wie möglich fühlen. Dies setzt selbstverständlich ein hohes Maß an Empathie und gleichzeitig viel Introspektion voraus. Meines Erachtens ist dies auch der Grund dafür, weshalb Elfen von außen betrachtet manchmal quälend lange brauchen, um eine Entscheidung zu treffen, und warum sie zudem bei ihren Feinden als weich und unzuverlässig gelten.
Auf eine auch für uns Menschen verständliche Ebene heruntergebrochen bedeutet das, die Elfen befolgen schlicht das schöne Sprüchlein: »Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu.« Oder wer es etwas gehobener haben möchte, der kann – so wie einige besonders feingeistige Elfologen – anführen, die Elfen hielten sich stets an Kant und dessen kategorischen Imperativ: »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.«
Dabei herrscht unter den Elfen allerdings auch keine positive Form von Anarchie. Die Mitglieder des Schönen Volks gestehen sich zwar wechselseitig viele Freiheiten zu, aber diese Freiheiten reichen nicht so weit, als dass es unter ihnen keinerlei Art von Regierung mehr gäbe: Allein die Tatsache, dass sie – nach allem, was wir über sie aus zuverlässigeren Quellen wissen – immer noch Könige respektive Häuptlinge haben, spricht in dieser Hinsicht
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