Alles über Elfen (German Edition)
denen bestimmte kritische Situationen durchgespielt und Fragen des gesellschaftlich adäquaten Miteinanders verhandelt werden: Darf man Rache oder Wiedergutmachung für eine empfundene Kränkung oder einen erlittenen Verlust suchen, und wenn ja, wie? Ab welchem Punkt setzt man sich auf welche Weise gegen Bedrängnis zur Wehr? Wie löst man heftige Meinungsverschiedenheiten, ohne dass sie in eine gewaltsame Streitigkeit ausarten?
Ich umschiffe in diesem Zusammenhang mit solchen Geschichten, die vor einem schlechten Verhalten warnen oder zu einem positiv konnotierten Betragen ermuntern, bewusst den Ausdruck »Märchen«. Bei uns Menschen erfüllen Märchen zwar auch oft die eben genannten Funktionen, doch die Erzählungen, die den Rahmen elfischer Moral abstecken, fallen nicht in dieses Genre. Dies hat zweierlei Gründe:
1.Ein Großteil dieser elfischen Geschichten hat einen – zumindest für das Schöne Volk selbst – zweifelsfrei belegbaren historischen Kern. Sie sind nicht frei ersonnen, was ihre Wirkung auf den Zuhörer drastisch erhöht. Der Konflikt, in dem der Protagonist einer solchen Schilderung steht, ist keine Phantasterei; man lauscht hier dem Nachhall echter Erfahrungen und Emotionen. [Christiansen: Ich bin da skeptisch. Das hört sich für mich nach Filmen an, bei denen am Anfang groß »Nach einer wahren Begebenheit« eingeblendet wird und sich dann doch nur als erfunden herausstellt. Plischke: Aber was ist daran schlimm, wenn es gut gemacht ist?] Nichtsdestominder haben wir es hier nicht mit Versuchen zu tun, die Wirklichkeit eins zu eins abzubilden. Elfische Geschichten haben keinen nüchternen oder gar sterilen Reportagecharakter. Sie sind in lyrischer Sprache verfasst und an den passenden Stellen mal dezent, mal recht ausschweifend ausgeschmückt.
2.Märchen beginnen traditionell mit einem »Es war einmal …« und verweisen damit auf eine weit entfernte Vergangenheit. Zwar spielen auch viele Elfengeschichten in längst vergangenen Tagen, doch dabei darf man einmal mehr die typische Lebensspanne des Schönen Volkes nicht unberücksichtigt lassen: Die Geschehnisse, von denen in ihren Geschichten die Rede ist, sind für sie um einiges präsenter. Es ist nicht einmal ausgeschlossen, dass ein Elf noch zu eigenen Lebzeiten zur Hauptfigur eines solchen »Lehrstücks« wird.
Es ist für die elfische Auffassung von Recht und Gerechtigkeit ohnehin nicht unerheblich, dass den Angehörigen des Schönen Volks ungleich mehr Zeit auf Erden vergönnt ist. In dieser Hinsicht am bedeutsamsten ist mit Sicherheit, dass der durchschnittliche Elf weitaus mehr persönliche Erfahrungen im direkten Umgang mit anderen sammeln kann, als es einem Menschen je möglich wäre. Das hat direkte Auswirkungen auf die gelebte Ethik der Elfen. Nachtragend zu sein beispielsweise wird auch bei uns Menschen nicht gerade als große Tugend gefeiert. Wie viel kritischer müssen diesem Charakterzug Geschöpfe gegenüberstehen, die einen Groll potenziell nicht nur ein paar Dekaden, sondern einige Jahrhunderte oder im Extremfall gar Jahrtausende lang hegen können? Insofern überrascht es kaum, dass Elfen auf solch menschliche Torheiten wie generationenüberspannende Blutfehden mit großem Unverständnis reagieren.
Einen Effekt, den man ebenfalls nicht unterschätzen sollte, ist der folgende: Als Elf ist man ständig von anderen Elfen umringt, die noch mehr gesehen und erlebt haben als man selbst. Wer nun sagt, das wäre bei uns Menschen auch nicht anders, der hat natürlich teilweise recht. [Plischke: Was allerdings nicht mehr stimmt, sobald man erst einmal ein gewisses Alter erreicht hat. Dann gehört man zu denjenigen, die den Jüngeren ständig erzählen, dass früher alles besser war, und leider gibt es dann niemanden mehr, der einem aus eigener Erfahrung heraus widersprechen könnte.] Es gehört zum Erwachsenwerden und jeder Sozialisation, dass die »Alttiere« einem ihre eigenen Ansichten und Anschauungen – gerne auch völlig unaufgefordert – dringend weitergeben wollen. Denn wer kennt sie nicht, die Warnungen von Eltern und/oder Großeltern, man solle bitteschön dies und das nicht tun respektive diese eine Sache unbedingt so und wieder eine andere auf jeden Fall ganz anders machen, wenn man es im Leben zu etwas bringen will (Glück, Erfolg, Wohlstand, einem Partner und so weiter)? Nun stelle man sich bitte kurz vor, Mama und Papa beziehungsweise Oma und Opa (die sich für ihr Alter übrigens herausragend gut gehalten
Weitere Kostenlose Bücher