Alles über Sally
Nummer 17. Das hätte etwas Unwirkliches haben können, doch so empfand es Sally nicht. Es bedrückte sie nur das Nebeneinander, das ihr den Zufall als etwas Ungerechtes vor Augen führte. Wie traurig, dass sie stellvertretend für alle Nachbarn, die mithalfen, die Gegend wohlhabend zu machen, die Kröte schlucken mussten . Warum gerade wir? Warum passiert das ausgerechnet uns? Wie ist das möglich?
Alfred folgte Sallys Sehlinie, er schüttelte den Kopf, als sei er imstande, ihre Gedanken zu lesen. Dann rollte er seinen Koffer zum Gartentor.
»Na komm schon«, sagte er. »So etwas hat man lieber hinter sich als vor sich.«
»Lass mich bitte noch einen Moment hier stehen.«
Sie hatten das Haus zu einem guten Zeitpunkt gekauft. Wien lag damals im toten Winkel Europas, und nicht nur Alfred und Sally hatten gedacht, dass der Eiserne Vorhang zur Geographie gehört wie die Pyrenäen und der Ural. Einige Jahre später befand sich Wien plötzlich wieder im Zentrum des Kontinents, und mit dem Leben, das in die Stadt kam, rührte sich auch der Immobilienmarkt. Die Dynamik wurde angeschoben von einem soliden wirtschaftlichen Aufschwung nach dem Beitritt Österreichs zur Europäischen Union und nach deren Osterweiterung. Dazu kam das Geld der russischen Oligarchen, die sich in Wien nach Investitionsmöglichkeiten und Zweitwohnsitzen umsahen. Wenn Alfred und Sally jung wären und ihr Haus heute kaufen müssten, wäre fraglich, ob sie es sich nochmals leisten könnten.
1985 hatten sie es mit einer überschaubaren Situation zu tun gehabt. Sally hatte die Anzeige in der Zeitung so euphorisch eingekreist, dass der Kugelschreiber das Papier aufriss. Das Angebot verhieß genau das Richtige, ein Objekt mit Garten hinter der Vorortelinie, nicht zu groß und nicht zu klein und nicht sonderlich teuer. Da Alfred seine Sammlung von Siwa-Fingerringen und die restlichen Sinai-Kleider verkauft hatte, besaßen sie etwas Geld. Sally vereinbarte einen Besichtigungstermin, und gleich beim ersten Betreten strömte das Haus eine insulare Atmosphäre aus, die Sally das Gefühl gab, hier nie wieder auszuziehen. Wie das kam, konnte sie sich nicht erklären, bis heute nicht,denn eigentlich machte das Haus nicht viel her. Als sie noch an der Straße gestanden waren, hatte Sally gesagt, vielleicht würde eine Begrünung helfen, das Erscheinungsbild der Fassade weicher zu machen.
Die Besitzerin erwies sich als freundliche alte Frau, die ganz kindersüchtig war, sie grabschte dauernd in Richtung der damals dreijährigen Alice. Einmal, beim Rundgang durch das Haus, fing die Frau an zu weinen. Sie tat Sally schrecklich leid, Sally dachte, die Frau ziehe bestimmt ins Altersheim.
Als Sally und Alfred wenige Tage später zurückkamen, um den Kauf perfekt zu machen, erfuhren sie, dass die Tochter der Besitzerin in dem Haus gewohnt und sich das Leben genommen hatte. Sally fand das schockierend, aber zu ihrem Erstaunen sagte ausgerechnet Alfred, dass alles Friedliche eine unruhige Vergangenheit besitze; dabei beließen sie es. Tatsächlich schien es, als habe das Haus den Tod nicht akzeptiert, dafür war es nicht alt genug. Und es schien auch, als habe die Tochter der Besitzerin dem Haus nicht wirklich ihren Stempel aufdrücken können. Es fehlte alles, was einen auf den Gedanken hätte bringen können, es würde geistern.
Sie unterschrieben einen provisorischen Kaufvertrag, Alfred blies die Luftmatratzen auf, dann verbrachten sie die erste Nacht im eigenen Haus. Obwohl es Strom gab, zündeten sie Kerzen an. Sie weihten das Haus mit Schampus ein, und zu Alfreds Verwirrung tanzte Sally nackt in dem praktisch leeren Raum, so glücklich war sie. Ihr Bauch wölbte sich bereits wieder.
An den eigentlichen Einzug konnte sich Sally nur mehrin wenigen Details erinnern, ein sonniger Tag, die Schwangerschaft mit Emma hatte ein Stadium erreicht, in dem Sally nicht mehr schwer tragen durfte. Jakob, Alfreds jüngerer Bruder, brachte die Sachen in einem gelben VW-Bus, in drei oder vier Fuhren. Jakob ging ihnen im Haus zur Hand, das kann aber auch später gewesen sein, im Winter. Woran sich Sally sehr gut erinnerte, war, dass der viele unausgenützte Platz sie zunächst erstaunt und dass das Haus dann jeden Tag kleiner ausgeschaut hatte und auch Jahr für Jahr kleiner zu werden schien. Durch die Ablagerungen der Jahre und des Lebens, das sie zu leben beschlossen hatten, war das Haus allmählich nach innen zugewachsen.
Alfred war ein Mensch, der nichts ohne schlechtes
Weitere Kostenlose Bücher