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Alles über Sally

Alles über Sally

Titel: Alles über Sally Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arno Geiger
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Liegestatt quietscht. Für einige Momente ist er glücklich, ganz in seinem Element, mit dem quasselnden Fernseher in der Nähe, wo die nächsten Nachrichten mit der nächsten Steinigung nicht weit sein können, im Einverständnis sogar mit den Tapetenblumen, von denen der menschliche Geist doch eigentlich, wenn man Sally fragt, nur eine begrenzte Dosis ertragen kann. Sally ist jetzt eindeutig verärgert, Alfreds seltsame Mischung aus Ichbezogenheit und Behaglichkeit bringt sie so in Rage, dass sie fast ein bisschen gelb unterden Augen wird. Was soll ich mit so einem Mann anfangen? Mit einem Mann, der das Leben fürchtet und ein lebender Beweis dafür ist, dass allzu viel Museumsluft träge und weltfremd macht.
    Um Alfred ein wenig zu reizen, sagt sie, dass er offensichtlich gerne bemitleidet werde und den Strumpf demonstrativ trage, um zu zeigen, wie arm er sei.
    »Zumindest willst du dich selber bemitleiden«, fügt sie nach einer Nachdenkpause hinzu. »Ich finde es abstoßend, wie du jetzt ausschaust.«
    Mit gleichsam schuldbewusster Verwirrtheit stiert Alfred den Strumpf an, vielleicht hat Sally recht, vielleicht liebt er die Verletzlichkeit, die er empfindet, wenn er den Strumpf trägt, vielleicht braucht er diese sichtbare Versehrtheit, damit er sich selber mag. Dennoch legt er seinen Stift in das Tagebuch, zwängt Zeige- und Mittelfinger in den Bund des Strumpfs und schiebt ihn langsam nach unten. Schon nach den ersten Zentimetern kommen die verdrechselten und verknoteten Ranken zum Vorschein, die mit dem Nachschießen des Blutes ihren teils hellblauen, teils lilafarbenen Glanz entfalten. Er denkt über diese Erscheinungen nach. Er sieht die Blumen auf den Tapeten des Zimmers und auf den Sesselbezügen, ihm ist seltsam zumute, er hat Angst, auch die Tapetenblumen könnten weiter wachsen. Mit einem letzten Ruck zieht er den Strumpf vom Bein und wirft ihn neben das Bett.
    »Abstoßend? Mein Gott, wie schroff du bist, Sally!«
    Sie zuckt die Achseln.
    »Ganz so meine ich es nicht.«
    »Dann ist ja gut«, sagt er.
    Sie sind lange genug zusammen, dreißig Jahre, und weil diese dreißig Jahre in jedem Satz nachhallen, weiß Alfred, dass er in Sallys Antwort mit etwas gutem Willen eine Entschuldigung erkennen darf. Sie regt sich zu sehr auf, sie ist ein wenig aufbrausend, früher haben es die Kinder zu spüren bekommen. Seine Meinung ist, Sally will einfach zu viel, vielleicht hängt das mit der Art zusammen, wie sie aufgewachsen ist, ohne Vater, bei der Großmutter und bei einem Großvater, der ein bisschen plemplem war.
    »Kannst du mich nicht in Ruhe lassen, Sally?« fragt er. »Wenn’s unbedingt sein muss, nagel mich ans Kreuz, wenn wir wieder zu Hause sind.«
    Sie hat sich schon wieder weggedreht. Verlegen steht sie, verlegen sitzt er, sie schauen hierhin und dorthin, er beobachtet sie, sie lässt sich von der Vormittagssonne anscheinen und vertreibt sich die Zeit, indem sie verdrossen mit den Fingern Linien ins Fenster zeichnet. Doch als die Kennmelodie der Nachrichten ertönt, ruckt sie auf. Sie schlägt nochmals vor, gemeinsam nach Heptonstall zu gehen und das Grab von Sylvia Plath zu suchen. Aber Alfred winkt ab, er wolle sich schonen.
    »Dann geh ich halt allein.«
    Sie tappt zum Waschbecken, und nachdem sie ihr Aussehen im Spiegel geprüft hat, zieht sie das Hemd über den Kopf und beginnt sich zu schminken, flüchtig, ungenau, von einem Gefühl nervöser Erwartung getrieben, das sie nicht zuordnen kann. Alfred schaut ihr zu, es kommt ihm noch immer wie ein Wunder vor, dass er sie in diesen alltäglichen Momenten nackt sehen darf, ohne ihr Misstrauen zu erregen. Sie steht vor ihm, nur mit einer Unterhose bekleidet,sie macht Anstalten, sich den BH anzuziehen, er bewundert ihre Brüste mit den dichter werdenden Falten in der Grube, das kommt ihm alles so arglos vor, während seine Gedanken nach wie vor die gleichen sind, die er schon als Bub gehabt hat und von denen seine Mutter und der Pfarrer gesagt haben, dass sie schmutzig seien.
    Schon gesehene Bilder von Krisenherden und von wichtigem Geschehen auf dem Bildschirm. Sally zieht sich eine Hose an, vertraute Vorgänge, vertraute Bewegungen, vertraute Anblicke, die fremde und staubige Welt der Steinigung. Sally wirft einige Dinge in ihre Umhängetasche, schlüpft in leichte Schuhe, dann geht sie Richtung Tür, Richtung Bett, wo der Strumpf am Boden liegt, eine leere Hülle, leer wie ein Totenkopf, hohl wie ein Knochen ohne Mark. Sally passiert die Stelle

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