Alles über Sally
zögernd, und weil sie weiß, wie schwer es Alfred fällt, mit ihr in Unfrieden zu sein, tut sie es mit ausgestrecktem Arm, damit er den Streit per Handschlag beenden kann. Zum wievielten Mal in all den Jahren? Alfred klapst ihre Hand ab, gleichzeitig fasst er danach, zieht sie ein wenig zu sich heran und küsst die Innenseite, Sallys salzige Lebenslinie.
»Überall auf der Welt gibt es Leute wie uns«, sagt er seufzend.
»Hoffentlich nicht!« erwidert sie.
Ihre lockigen Haare bewegen sich, als sie lachend den Kopf schüttelt. Sie zieht die Hand zurück, und nachdem sie die aus weißem und schwarzem Plastik gepresste Sonnenbrille auf ihre Nase geschoben hat, geht sie davon, eine Frau, eine sportliche Frau, attraktiv, aber doch verschwommen, diffus zwischen hübsch und eindeutig nichtmehr jung, auf rätselhafte Weise unscharf. Alfred hört ihre Schritte eine halbe Minute lang im Flur und auf der Treppe und nach einer kurzen Pause draußen auf dem Plattenweg bis zum Gartentor zwischen den Linden. Die Fallklinke des Gartentors klappert mehrmals. Mit einem Ausdruck der Verblüffung bleibt Alfred zurück.
2
Sally ist immer wieder beeindruckt vom Wechsel der Offen - und Geschlossen -Perioden in ihrem Leben. Es scheint Zeiten zu geben, in denen das Glück keine größere Anstrengung verlangt als das Aufdrücken einer angelehnten Tür, dann wieder geht alles, was sie anfängt, schief, und sie könnte genauso gut Winterschlaf halten, bis das Schicksal jemand anderen gefunden hat, den es zum Narren halten kann. Die zweite Hälfte des vergangenen Schuljahres war eine Geschlossen -Periode, überall Wiederholungen und Stagnation. Überraschungen gab es nur, wenn ihr etwas nach den Fersen schnappte. Manchmal hatte sie ihre Schülerinnen und Schüler so satt, dass sie in den Gesichtern nur einfältige oder impertinente Gedanken las. Das Gefühl, sie müsse diese jungen Menschen nicht nur für das lieben, was sie sind, sondern auch für das, was sie im besten Fall sein werden, war manchmal tagelang weg. Sally empfand sich als unzulänglich und bloßgestellt, aus dem Wunsch, es besser machen zu wollen, entstand ein Gefühl von Zwang, und aus dem Gefühl von Zwang entstanden Wut und Erschöpfung. Im April wurde ein Kollege wegen des Vorwurfs, sich an eine Schülerin herangemacht zu haben, suspendiert. Sally musste einen Teil seiner Stunden übernehmen, und von da an bediente sie sich regelmäßig unerlaubter Mittel, um einschlafen zu können. Trotzdem zeigte ihr Energiepegel im Mai keine Reserven mehr an,und erst im Juni gab es wieder Lichtblicke, das war, als die großen Prüfungen losgingen. Während dieser Zeit musste Sally stundenlang Aufsicht halten. Die großen Räume zu durchschreiten, in denen die Prüfungen stattfinden, zwischen den langen Reihen aus Bänken, eine hinter der andern, stellt eine anspruchslose Aufgabe dar, bei der die einzige Verpflichtung darin besteht, zu gewährleisten, dass die Regeln der Prüfungskommission nicht verletzt werden. Wenn Sally sich aus der Langeweile der Situation in ihren Gedankenfundus zurückzog, konnte es passieren, dass ihr Körper über die knarrenden Holzböden des Prüfungssaales schritt, während ihre Vorstellung eine Nilbrücke in Kairo überquerte. In den ersten Jahren ihrer Lehrerkarriere hatte ihr geistiger Abbau gegen Ende des Schuljahres dazu geführt, dass sie während der Aufsichten im Kopf Listen erstellte von weiblichen Nobelpreisträgern, von Redewendungen mit Körperteilen oder von Liebhabern, die schon anfingen, sich in den Nebel der Zeit zurückzuziehen. Was sich in all den Jahren aber nie geändert hat, war, dass die Trockenheit des Moments immer wieder aufgelockert wurde von Händen, die hochgingen zum beinahe sicheren Zeichen, dass frisches Schreibpapier benötigt wird. Dann nahm Sally den Weg durch den Prüfungssaal in Angriff, im Wettbewerb mit einem ähnlich gelangweilten Kollegen oder einer Kollegin, für die eine Papierzulieferung ebenfalls eine willkommene Abwechslung bedeutete angesichts der öden und gestohlenen Zeit. Und manchmal, ohne direkte Verabredung, in einer unausgesprochenen Abmachung, wurde ein regelrechter Wettkampf daraus, unter Aufwendung aller erdenklichen Tricks – wer mit dem Papierschneller zur Stelle ist. Bei Begegnungen in den Bankreihen flüsterten sie einander leise »8 zu 5« oder sonst einen Zwischenstand zu, das alles, um die Langeweile des Moments zu lindern.
In diesem Jahr hatte Sally während der Prüfungsaufsichten
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