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Alles Umsonst

Titel: Alles Umsonst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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andere kamen gerade an und freuten sich über einen guten Platz. Es herrschte reges Leben und Treiben. Flüchtlingsfrauen gingen von Haus zu Haus, ob sie sich mal waschen dürften, und Hitlerjungen schaufelten Schnee zur Seite.
    Vielleicht würde er ja Wladimir entdecken? dachte Peter. Möglicherweise hatte der ja nur mal eben mal den Platz gewechselt? Die Luftpistole würde aber wohl keinen Eindruck auf ihn machen.
    Oder Onkel Josef? Der mußte hier doch auch irgendwo stekken? Vielleicht liefen ihm hier die Kusinen plötzlich über den Weg? Hallo? Wo kommt ihr denn her?
    Und er tribunalisierte in Gedanken, was er sie alles fragen würde. Warum sie nicht auf ihn gewartet haben und so weiter und so fort, und daß sie ihn schwer enttäuscht haben!
     
    Aus dem Stadtcafé hörte er Klaviermusik. Er war noch nie in einem Kaffeehaus gewesen, jetzt ging er hinein, schlug den massiven Windfang-Vorhang zur Seite, Heil Hitler, und in der muffigen Wärme sah er unter dem Zigarettenqualm Soldaten aller Waffengattungen und Frauen mit Hut, und am Klavier saß der Einarmige!
     
    Sag’ beim Abschied leise «Servus»,
    nicht «Lebwohl» und nicht «Adieu»,
    diese Worte tun nur weh ...
     
    Kein Zweifel, es war der Obergefreite Hofer aus München. Peter legte ihm die Hand auf die Schulter, und der Soldat hörte sofort auf zu spielen und setzte sich mit ihm an einen Tisch. «Der Peter! »Was für ein Zufall!
    Er hatte für das Lazarett, das längst weitergezogen war, Mullbinden und destilliertes Wasser organisieren sollen, und nun hatte er alles beisammen, hätte an sich schon wieder auf Achse sein müssen und hinterhermachen, au weh! die Leutchen warteten ja auf ihn. Aber: «Wenn ich ein Klavier sehe, kann ich nicht widerstehen.»
    «Und mit dem verrückten Tantchen bist du unterwegs?» fragte er. – Das gefiel Peter nicht, daß er «verrücktes Tantchen» sagte. Die war doch eigentlich ganz in Ordnung?
    Ziemlich sofort wurde gefragt, ob Peter noch mal was von der Geigerin gehört hat? «Was mag aus ihr geworden sein?» fragte der Soldat. «Sie wollte ja nach Allenstein, und da sitzt doch längst der Russe ... Sie ist bestimmt schon hopsgegangen. Der Russe fackelt nicht lange, da wird ihr die Geige nicht viel genützt haben.»
    Und dann sprach er vom «Bürsten» und erzählte Peter, der in seinen jungen Jahren von all dem keine Ahnung hatte, daß diese Frau gar nicht ohne gewesen sei, unwahrscheinlich anschmiegsam und so weiter und so fort, und er erwähnte sogar, daß sie mit dem Oberarzt in Mitkau ohne weiteres «ins Bett» gegangen sei.
    «Ein wildes Früchtchen!»
    Dann gab er Peter alle möglichen Ratschläge, wie man Frauen rumkriegt, er kriege jede rum! Seiner jungen Frau in München würde er keine Vorwürfe machen, wenn sie sich mal «einen Stift setzen läßt».
    «Was nützt das schlechte Leben?»
     
    Dann sagte er zu Peter, wie sauwohl er sich in Georgenhof gefühlt habe, der Kamin, der Sommersaal ... Und er beschrieb Peter alles mögliche, von dem dieser keine Ahnung hatte: Von einer Hausorgel sprach er, von kristallenen Leuchtern und endlosen Zimmerfluchten ... Das hörte sich alles sehr gut an, doch Peter wunderte sich: Wovon redete der Mann? Eine Hausorgel in Georgenhof?
    Der Obergefreite Hofer kam auch auf die Ukrainerinnen zu sprechen. Vera bezeichnete er als dicke Vettel und Sonja als «kleines freches Luder». Sonja, mit einem Kranz um den Kopf und roter Nase, daß er mit der wohl auch gern mal huschihuschi gegangen wäre ...
    «Im Grunde sind sie doch alle gleich.» Und Wladimir ist mitdem Wagen abgehauen? das wär’ typisch. «Diese Ostleute klauen doch wie die Raben.»
    Und dann zog er eine angekokelte Meerschaumspitze aus der Tasche, ein Schnitzwerk war darauf zu sehen: Mann und Frau, und zündete sich eine Zigarette an ... Und er erzählte von seiner Zeit in Polen, von Warschau, von dunklen Seitenstraßen. Und von Läusen und Flöhen.
     
    Die Sache mit den erdbraunen Gestalten brachte Peter hier nicht vor, und daß er durch den Schnee gerobbt sei. Während der Obergefreite Hof er vom «Umlegen» sprach, er müsse dringend mal wieder einen «wegstecken», guckte er aus dem Fenster auf die Straße. Wenn jetzt Dr. Wagner vorüberkäme? Nichts verstehend und doch an allem interessiert? Füllest wieder Busch und Tal? – Zogen sie denn da draußen alle vorüber? Einer hinter dem andern? Der Briefmarkenmann, sich in den Krücken schwingend; Drygalski mit schwerem Schritt – «Sei stolz, ich trage die

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