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Alles Umsonst

Titel: Alles Umsonst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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verloren! Die Kleider! Die Tischwäsche! Das Silber! – Das ganze Silber! Die Betten und die Kannen mit Schmalz und Zucker. Die Fotos! Und all die Akten von Georgenhof. Die englischen Stahlaktien und die Verträge mit der rumänischen Reismehlfabrik allerdings nicht. Die hatte das Tantchen in ihre Handtasche gesteckt.
    Sehr merkwürdig, daß auf dem Hafersack der Stempel von Albertsdorf zu sehen war. Albertsdorf? Dann hatte Wladimir den also dort organisiert? «Geklaut», auf deutsch gesagt? – Es war alles nicht so einfach.
     
    Auch den Wallach fragte sie, was er dazu sagt, daß Wladimir sie im Stich gelassen hat. Sie hätte sich gern an seinem Halse ausgeweint. Aber der Wallach schlug mit dem Schweif und drehte seine Augen gen Himmel: Was nun wohl noch alles kommt, mochte er denken. Wird die Alte am Ende noch zudringlich?
     
    Peter saß in seiner Strohschütte. Durch das zerbrochene Fenster schneite es herein. Er versuchte, einzelne Flocken mit dem Objektträger des Mikroskops aufzufangen, er spielte also Haschen mit den eisigen Kristallen, aber vergeblich. Die Flocken, die er eingefangen hatte, schmolzen augenblicklich dahin.
     
    In der Turnhalle durften sie sich waschen, Heil Hitler, dort gab es sogar warmes Wasser, das wurde mit der Kelle aus der Gulaschkanone ausgegeben. Wo sonst die Barrenturner Seitgrätschemit Unterschwung übten, stand nun die NSV und sorgte für Ordnung. Auch Krankenschwestern waren zur Hand. Heil Hitler. Hier hätte sich Wladimir seinen kaputten Finger ohne weiteres verbinden lassen können, wahrscheinlich sogar umsonst. Aber der hatte seine eigenen Gedanken gehabt.
    An langen Tischen wurden die Flüchtlinge mit Kaffee versorgt. Es waren nicht mehr so viele wie am Vortag. So mancher hatte schon in aller Frühe das Weite gesucht. Aber es langten andere an, müde und durchgefroren. Und bald war der Platz schon wieder besetzt.
    Einige Wagen kamen sogar aus Richtung Elbing, von der Feldpolizei zurückgeschickt, weil kein Durchkommen mehr ins Reich.
     
    Ein Mann von der Partei ging von einem Tisch zum andern, Heil Hitler, und redete den Leuten gut zu. Wie es Pastor Brahms auf dem Missionsfest in Mitkau von einem zum andern zog, so legte der Parteimann den Menschen die Hand auf die Schulter. Heil Hitler. Der redete ihnen gut zu. Das Chaos werde sich bald lichten, man werde Mittel und Wege finden. – Wie Pastor Brahms tat er das, der nun bereits in Königsberg in einer Einzelzelle saß mit zwei Riegeln vor der Tür, das rechte Auge blaugeschlagen.
     
    Als es endlich acht Uhr war, ging das Tantchen zur Polizei, Heil Hitler. Dort mußte sie natürlich erst mal warten, die Schlange der ratsuchenden Volksgenossen war lang. Als sie endlich dran war, wurde sie sehr freundlich behandelt. Ein älterer Polizeibeamter bot ihr sogar einen Stuhl an! Und dann – «von Globig? von Globig aus Georgenhof?» – stellte sich heraus, daß der Polizist Eberhard kannte! Er war dem Herrn von Globig mal begegnet in einer kniffligen Situation, von der er hier nicht weiter reden will. Der Herr hatte für ihn die Hand ins Feuer gelegt, und das mußte man anerkennen ...
    Das Tantchen zeigte all ihre Papiere vor. Auf die Fluchtbescheinigung hatte Drygalski unten drunter geschrieben: «Dieser Frau ist jede Hilfe zu gewähren.» Das wirkte sich günstig aus, und der Beamte sagte: «Den Polen kriegen wir, darauf können Sie sich verlassen.» Diese Sache würde natürlich vorrangig behandelt. Per Telefon werde er die nächsten Ortschaften darauf hinweisen: da kommt ein Pole mit viereckiger Mütze auf einem grünen Ackerwagen, der hat eine korpulente Frau bei sich, eine Ostarbeiterin. Den unbedingt festhalten, den sofort verhaften und den Wagen sicherstellen! Heil Hitler!
    Das Tantchen unterschrieb das Protokoll, und dann erzählte sie dem Beamten, der eigentlich noch was anderes zu tun hatte, was alles auf dem Wagen verstaut war: Die Kleider! Die Bettwäsche! Das Silber! – Das ganze Silber! Schließlich wurden Rufe aus der Menschenschlange laut von hinten, was da vorn los wär, «das dauert ja ewig».
    Daß der Pole auch an seinem Finger zu erkennen wäre, «der Zeigefinger der rechten Hand ist verbunden», fügte sie noch hinzu, und der Beamte schrieb das noch zwischen die Zeilen.
     
    Peter hatte sich inzwischen aufgemacht und schlenderte die Hauptstraße entlang, an den Wagen vorüber, die hier aufgereiht waren, groß und klein, schwer und leicht. Einzelne Treck- wagen scherten aus, die wollten weiterfahren,

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