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Alles Umsonst

Titel: Alles Umsonst
Autoren: Walter Kempowski
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können. Man wollte hier ja keine Wurzeln schlagen, man wollte ja weiter, immer weiter?
     
    Am Morgen stellte er sich zum Frühstück ein, Gesellschaft leisten in dieser schweren Zeit, das war ja selbstverständlich! Er hörte sich in Ruhe an, was alles mit dem großen Wagen verlorengegangen war, und er half dabei, die in der Kutsche verbliebenen Koffer umzupacken. Allerhand überflüssiges Zeug aussortieren, die ganzen Sommersachen! Weg damit! Lächerlich, womit man sich abschleppte mitten im Winter.
    «Und im Sommer? Was machen wir dann? – Weiß der liebe Himmel, wo wir im Sommer sind!»
    «Da sind Sie gewiß längst wieder zu Hause», sagte der Herr. Aber das glaubte das Tantchen nicht so recht. Georgenhof würde sie nie wiedersehen. Georgenhof wollte sie auch nicht wiedersehen. Weit über zwanzig Jahre mehr oder weniger geopfert? Für nichts und wieder nichts? Nicht mal ein anständiges Gehalt hatte sie bekommen? Mehr so eine Art Taschengeld hatte man ihr gezahlt. Und waren denn Marken für sie geklebt worden? Versicherung, Sterbekasse? Letzte Groschen hatte sie nicht im Strumpf.
    Immer hatte sie außen vor gestanden, ihr ganzes Leben lang. Damals, als sie aus dem Elternhaus hinausgesetzt wurden von dem Raffke, wie der so hämisch an der Straße stand! Damals hätte sie vielleicht Lehrerin werden können. In der Laube immer so gern Schule gespielt. Es hatte sie niemand bei der Hand genommen, außer dem alten Globig: Du kommst zu uns, hatte er gesagt, ja, so war es gewesen. Und das war wie eine Befreiung gewesen! Aber kein Gehalt gezahlt, mehr so gelegentlich was hingelegt, was sie sich dann nehmen durfte, und zu Weihnachten einen Muff oder Strickhandschuhe.
    Später, als Eberhard den wundervollen «Wanderer» kaufte, dunkelblau, mit geteilter Frontscheibe ... Er hätte sie doch gut einmal mitnehmen können?
    «Sieh mal, Tantchen, was für einen schönen Wagen wir haben»gesagt und gehupt, als sie aus dem Tor fuhren. Nach Süden! Ans Meer! Ins Gebirge! Nach Italien wäre sie auch ganz gern mal gefahren ...
    Der Schlesier sagte, ach, wie gern würde er mal wieder schlesischen Plusterschinken essen! Er brachte ein Glas eingelegte Gurken mit, das war doch mal was anderes. Auf schlesische Art eingemacht! Und Peter bekam einen Napf Kunsthonig. Das Zeug schmeckte extrem süß, das war für die Zähne sicher nicht das Beste. Viel konnte man nicht davon essen.
    Ob er nicht sein Mikroskop verkaufen will? oder eintauschen? fragte ihn der Schlesier. Und er schenkte Peter ein paar blank- geputzte Gewehrkugeln, polnische, belgische und auch deutsche. Aus Kupfer und aus Messing waren sie, eine hatte sogar eine Öse hinten dran, die hätte man sich um den Hals hängen können.
    Peter hätte sich gern eine Sammlung solcher Kugeln angelegt, und der Schlesier versprach es, er würde noch welche besorgen können. «Ich kenne einen Mann, der welche beschaffen kann, wenn man ihm vielleicht ein Stück Speck gibt?» Der habe zu Hause einen ganzen Schrank voll davon. – Ob Peter vielleicht einen finnischen Dolch haben möchte? fragte er sogar. Wär’ ihm damit gedient?
    «Möchtest du einen finnischen Dolch haben?»
     
    Für den Einkauf von Brot erwiesen sich die Urlaubermarken, die das Tantchen von dem Nationalökonomen in Georgenhof bekommen hatte, als unentbehrlich, fünf, sechs Bogen! Das Tantchen hatte sie damals eigentlich ablehnen wollen, hatte dann aber doch beherzt zugelangt, als er sie ihr lächelnd hinhielt. Woher er sie eigentlich hatte, das hatte der Mann nicht gesagt. Neu sahen sie aus, die Dinger, und ein wenig anders.
    Die kamen ihr nun zugute.
    Einmal sah sich der Bäcker die Marken etwas genauer an – da merkte das Tantchen, daß etwas damit nicht stimmte. Von da an war sie vorsichtiger, schickte mal Peter hin oder den schlesischen Herrn, und immer zu einem andern Bäcker. Der Bäkker an der Post war am wenigsten mißtrauisch, das war ein gutmütiger, dicker Mann mit rotem Gesicht. Bartels hieß er, und er wurde «der Postbäcker» genannt. Sein Meisterbrief hing in goldenem Rahmen über der Tür. Der knipte mit seinem dicken Daumen so viele Marken ab wie nötig und schob das warme, duftende Brot in aller Seelenruhe über den Tisch. Der erkundigte sich sogar – woher? wohin? – und Peter konnte ihm was von erdbraunen Soldaten erzählen, die geduckt an ihm vor- übergestürmt seien.
     
    Die Hauptstraße hinauf – hinunter ging Peter, an den Reihen der Wagen vorüber. Vielleicht war Wladimir ja doch noch
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