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Alles, was ist: Roman (German Edition)

Alles, was ist: Roman (German Edition)

Titel: Alles, was ist: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Salter
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Jagdführer aber war er sehr bestimmt und bestand auf tadelloser Etikette. Einmal hielt er das ganze Feld an, nur weil jemand einen Fehler machte, und hielt der Gesellschaft einen vehementen Vortrag, bis jemand sagte:
    »Hören Sie, ich bin nicht um sechs Uhr morgens aufgestanden, um mir eine Standpauke anzuhören.«
    »Sitzen Sie ab!«, rief Stump. »Sitzen Sie sofort ab und kehren Sie zu den Stallungen zurück.«
    Später entschuldigte er sich.
    Richter Stump war ein Freund von Vivians Vater George Amussen, der wusste, wie man sich benahm und stets höflich war, wenn auch wählerisch bei der Auswahl seiner Freunde. Der Richter war sein Anwalt, und Anna Wayne, die erste Frau des Richters, die etwas schmalbrüstig war, wenngleich eine sehr gute Reiterin, war vor ihrer Eheschließung eine Zeitlang mit Amussen zusammen gewesen, und man ging allgemein davon aus, dass sie den Antrag des Richters nur annahm, weil sie glaubte, dass Amussen sie nicht heiraten würde.
    Richter Stump stellte Frauen nach, George Amussen tat dies nicht – die Frauen stellten ihm nach. Er war elegant und zurückhaltend und für sein glückliches Händchen bei ein paar Immobiliengeschäften in Washington weit bewundert. Mit seiner ausgeglichenen und geduldigen Art hatte er früher als andere erkannt, dass Washington sich veränderte, und über die Jahre mit dem einen oder anderen Geschäftspartner im Nordwesten der Stadt Apartmenthäuser gekauft, und auch ein Geschäftshaus auf der Wisconsin Avenue. Er war diskret, was seinen Besitz betraf, er redete nicht darüber. Er fuhr einen unauffälligen Wagen und kleidete sich leger, normalerweise in einem Sportjackett mit maßgeschneiderten Hosen oder auch im Anzug, wenn der Anlass es erforderte.
    Er hatte blondes Haar, das Grau war darin nicht zu sehen, und einen unbeschwerten Gang, der eine gewisse Kraft ausstrahlte, eine Haltung, für die richtigen Dinge einzustehen. Als Gentleman und Mitglied von Country Clubs kannte er alle schwarzen Kellner mit Namen, und sie kannten ihn. Jedes Jahr zu Weihnachten gab er ihnen doppeltes Trinkgeld.
    Washington war eine südliche Stadt, lethargisch und nicht wirklich groß. Das Wetter war furchtbar, feucht und kalt im Winter und im Sommer unerträglich heiß und durch das Delta schwül. Neben der Regierung hatte es seine ureigenen Institutionen, die altbekannten Hotels, darunter auch das Wardman, das wegen der vielen Geliebten, die dort untergebracht wurden, auch als die Reitschule bekannt war; die Riggs Bank als erste Bank der Stadt; die alteingesessenen Kaufhäuser in der Innenstadt. Howard Breen, der Eigentümer der Versicherungsgesellschaft, für die George Amussen arbeitete, würde eines Tages alle Immobilien erben, die sein Vater angehäuft hatte, darunter auch das exklusivste Apartmenthaus der Stadt, in dem der alte Mann mit Filzhut und einem Spucknapf neben dem Fuß oft in der Lobby saß und mit schmalen Eidechsenaugen beobachtete, was vor sich ging. Nur die vornehmsten Leute wurden als Mieter akzeptiert, und selbst ihnen gegenüber zeigte er sich gleichgültig. Schon ein leichtes Nicken von ihm, was nicht häufig vorkam, wurde als herzlich empfunden. Die Apartments aber waren groß mit schönen Kaminen und hohen Decken, und die Beschäftigten, die ganz nach dem Eigentümer kamen, waren schweigsam, wenn nicht gar brüsk.
    Mit dem Krieg veränderte sich alles. Horden von Armee- und Marineangehörigen, Regierungsangestellte, junge Frauen, die durch die Nachfrage an Sekretärinnen in die Stadt gelockt wurden – innerhalb von zwei oder drei Jahren war die verschlafene Provinzstadt verschwunden. In mancher Hinsicht blieb sie ihren Weisen treu, aber die alten Tage waren vorbei. Vivian war während dieser Zeit volljährig geworden. Und obwohl sie ihrem Vater zufolge in viel zu kurzen Shorts im Club auftauchte und viel zu früh hohe Schuhe trug, waren ihre Gedanken und Überzeugungen doch grundlegend mit der Welt verhaftet, in der sie aufgewachsen war.
    Bowman schrieb ihr und konnte es kaum glauben, als sie ihm zurückschrieb. Ihre Briefe waren freundlich und offen. Sie kam in jenem Frühjahr und Sommer mehrere Male nach New York und wohnte bei Louise, lachend und im Pyjama, sie schlief sogar im selben Bett mit ihr. Sie hatte ihrem Vater noch nichts von ihrem Freund erzählt. Ihre Freunde aus Washington arbeiteten alle im Staatsdienst oder in der Treuhandabteilung der Riggs und waren in vielerlei Hinsicht das Ebenbild ihrer Eltern. Sich selbst sah sie anders. Zudem

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