Alles, was ist: Roman (German Edition)
hell‹ , sagt er, hat sie sich gerade ihn ausgesucht? Er kann nicht mal reiten.«
»Jetzt fühl ich mich nicht grad besser. Ich kann segeln«, fügte er hinzu. »Kann dein Vater segeln?«
»Er ist zu den Bahamas gesegelt.«
Sie schien bereit, ihn zu verteidigen, und Bowman hatte das Gefühl, er sollte es dabei belassen. Sie saß da und sah aus dem Fenster, sie wirkte ein wenig abwesend, und doch, in ihrem Lederrock, die Haare zurückgebunden, mit ihrem offenen Gesicht und dem dünnen Goldkettchen um den Hals, war sie der Inbegriff all dessen, was ihm begehrenswert erschien. Sie wandte sich ihm wieder zu.
»Es ist einfach so«, erklärte sie. »Man muss halt zuerst durch die schmutzige Diele.«
»Ist deine Mutter genauso?«
»Meine Mutter? Nein.«
»Wie ist sie so?«
»Sie trinkt«, sagte Vivian. »Das war auch der Grund für ihre Trennung.«
»Wo lebt sie? In Middleburg?«
»Nein. Sie hat ein Apartment in Washington. In der Nähe vom Dupont Circle. Du wirst sie noch kennenlernen.«
Ihre Mutter war früher sehr schön, aber man könne es jetzt nicht mehr sehen, erklärte Vivian. Am Morgen ginge es schon mit Wodka los, und vor dem Nachmittag ziehe sie sich selten an.
»Eigentlich hat Daddy uns großgezogen. Wir sind seine beiden Mädchen. Er musste uns beschützen.«
Sie fuhren eine Weile, ohne etwas zu sagen, in der Nähe von Centerville blickte er zu ihr hinüber und sah, dass sie eingeschlafen war. Ihr Kopf war zur Seite genickt, ihre Lippen waren leicht geöffnet. Sinnliche Gedanken stiegen in ihm auf. Ihre Beine mit den glatten Nylonstrümpfen, aus irgendeinem Grund betrachtete er sie einzeln, ihre Länge und Form. Ihm wurde bewusst, wie sehr er in sie verliebt war. Es lag in ihrer Macht, immenses Glück zu gewähren.
Als sie sich am Bahnhof verabschiedeten, fühlte er, dass etwas Endgültiges zwischen ihnen geschehen war. Trotz aller Unsicherheit war da diese Gewissheit, eine Gewissheit, die ihn niemals verlassen würde.
4. Wie eins
Wenn sie beieinandersaßen oder aßen oder nebeneinander hergingen, erzählte er ihr von seinen Gedanken und Ideen über das Leben, die Geschichte, die Kunst. Er erzählte ihr alles. Er wusste, dass sie über diese Dinge nicht nachdachte, aber sie verstand ihn und konnte lernen. Er liebte sie nicht nur für das, was sie war, sondern für das, was sie sein könnte. Der Gedanke, dass sie anders sein mochte, kam ihm nicht oder war nicht so wichtig. Warum sollte er an so etwas denken? Wenn man liebte, sah man eine Zukunft, die den eigenen Träumen entsprach.
In Summit, wohin er mit Vivian fuhr, damit seine Mutter sie kennenlernte, sie sollte sie sehen und natürlich mögen, ging er mit ihr als erstes in den Diner gegenüber der City Hall, den es schon seit Jahren gab. Der Diner war eigentlich ein alter Eisenbahnwaggon mit einer langen Fensterreihe zur Straße. Der Boden war gefliest, die Decke aus hellem Holz ging in einer Rundung in die Wände über. Die Theke, an der die Gäste saßen – es waren immer ein oder zwei –, zog sich durch den ganzen Raum. Am Morgen war es immer etwas voller; die Morris und Essex Line, mit der man in die Stadt kam, lag gleich am Ende der Straße. Die Gleise verliefen etwas tiefer und waren nicht zu sehen. Am Abend waren die Lichter des Diner die einzigen in der Straße. Man betrat ihn durch eine Tür gegenüber der Theke, und es gab noch eine zweite an der Seite.
Hier hat Hemingway seine Geschichte Die Killer angelegt, sagte Bowman.
»Genau hier in dem Diner. Die Theke, einfach alles. Kennst du die Geschichte? Sie ist wirklich fantastisch. Unheimlich gut geschrieben. Selbst wenn man sonst nichts von ihm kennt, weiß man sofort, was für ein großer Autor er ist. Die Geschichte spielt am Abend. Niemand ist da, keine Gäste, der Diner ist vollkommen leer, und dann kommen zwei Männer herein, mit langen schwarzen Mänteln, und setzen sich an die Bar. Sie sehen auf die Karte, bestellen etwas, und einer der beiden sagt zum Barkeeper hinter der Theke: Wo sind wir hier? Wie heißt der Ort? Und der Mann, der natürlich Angst hat, sagt: Summit. Wirklich. So steht es in der Geschichte. Summit. Dann kommt das Essen, und die beiden essen mit Handschuhen. Sie sind gekommen, um einen Schweden umzulegen, sagen sie dem Barkeeper. Sie wissen, dass der Schwede immer herkommt, ein früherer Boxer namens Ole Anderson, der ihre Auftraggeber irgendwie hintergangen hat. Einer der Männer zieht eine abgesägte Schrotflinte aus dem Mantel und geht in die
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