Alles, was ist: Roman (German Edition)
zum Bestattungsunternehmen, um alles zu arrangieren. Sie baten um einen offenen Sarg, sie beide wollten sie ein letztes Mal sehen. Dort, im stillen Zimmer, lag seine Mutter. Sie hatten ihr das Haar zurechtgemacht und etwas Schminke auf Lippen und Wangen aufgetragen. Er beugte sich über sie und küsste ihre Stirn. Es schien ihm unziemlich. Etwas Wesentliches in ihr, nicht nur das Leben, war verloschen.
Sie hatte ihm nie alles, was sie wusste, erzählt, noch konnte er sich an alle Tage seiner Kindheit erinnern, an die Dinge, die sie zusammen unternommen hatten. Sein Charakter stammte von ihr, oder zumindest ein Teil davon, der Rest hatte sich irgendwie alleine entwickelt. Er dachte mit einer Art Verzweiflung an Dinge, über die er gerne mit ihr reden oder noch einmal reden wollte. Sie war eine junge Frau in New York gewesen, frisch verheiratet, und eines strahlenden Sommermorgens mit einem Sohn gesegnet worden.
Seine Stiefmutter starb, wie es der Zufall wollte, im gleichen Frühjahr. Er hatte sie oder ihre Vorgängerinnen nie kennengelernt. Jemand schickte ihm einen Ausschnitt aus einer Houstoner Tageszeitung. Vanessa Storrs Bowman war ihr Name, sie war dreiundsiebzig, eine Dame der Gesellschaft. Er betrachtete das Foto und überflog den Artikel, bis er mit einem Stich oder etwas Ähnlichem – es war keine Trauer – las, dass sein Vater zwei Jahre zuvor gestorben war. Er fühlte eine merkwürdige Unruhe, als hätte er zum Teil ein falsches Leben geführt, und obwohl er in all den Jahren nie von seinem Vater gehört oder ihn gesehen hatte, war eine wesentliche Verbindung mit einem Mal für immer verloren. Vanessa Storrs Bowman hatte zwei Brüder, und ihr Vater war Präsident einer Erdölgesellschaft gewesen. Das Ganze klang nach Geld, sogar Vermögen. Er dachte an seine Mutter und ihre entfernten reichen Verwandten, Cousins vielleicht, an die Villa in einer Seitenstraße der Fifth Avenue, die sie ihm einmal gezeigt hatte. Erinnerte er sich, oder war es nur ein Traum, zwei oder drei düstere Stockwerke aus Granit, ein grünes Dach und eisenvergitterte Glastüren? Vielleicht gab es das Haus nicht wirklich. Er hatte immer gedacht, es eines Tages vielleicht zu sehen, aber es war nie passiert.
21. Azur
Das Jahr, in dem er das Haus kaufte, der Frühling in jenem Jahr und auch der Sommer, war die glücklichste Zeit in seinem Leben, auch wenn er so manches aus früherer Zeit vergessen hatte. Sie hatten nicht das Geld, um mehr als ein paar Möbel für die oberen Zimmer zu kaufen, aber in der Leere und Einfachheit gab es viel Raum für Glück. Es gab die Jahreszeiten, die Bäume, das Gras, das ein wenig zu lang war und sich bis zum Wasser hinunterzog, die Sonne spiegelte sich in den Fenstern der Häuser gegenüber.
Morgens im Sommer, das Licht strömte herein, die Stille. Es war ein barfüßiges Leben, die Kühle der Nacht auf den Dielen, die grünen Bäume, wenn man ins Freie trat, die ersten, fernen Schreie der Vögel. Er kam im Anzug und zog ihn nicht wieder an, bis er zurück in die Stadt fuhr. Das Haus konnte nicht abgeschlossen werden – der Riegel an der Küchentür ließ sich nicht mehr zuschieben. Die Fenstersimse hatten Risse bekommen, und die Farbe schälte sich, er hatte ein paar von ihnen abgezogen und gekittet, aber war nicht dazu gekommen, sie zu streichen. Der Hauskauf hatte eine Barzahlung von mehr als fünfundfünfzigtausend Dollar beinhaltet. Er hatte es irgendwie zusammengekratzt. Er hatte sich nie viel um Geld gesorgt. Er verdiente vierunddreißigtausend im Jahr, die Mittagessen oder auch Dinner nicht mitgerechnet, die zu Lasten des Geschäftskontos gingen. Er wohnte in einer mietgebundenen Wohnung und zahlte weniger als die Hälfte dessen, was man für vergleichbare Wohnungen hätte zahlen müssen. Auch seine Reisen nach Europa zweimal im Jahr kosteten ihn nichts, oder die Reisen zu anderen Orten, Chicago, Los Angeles. Sein Leben war in fast jeder Hinsicht komfortabel.
Beatrice hatte nichts hinterlassen, die lange Krankheit hatte alles aufgebraucht. Er ging davon aus, dass seine Tante Dorothy ihn als Erben einsetzte, aber er hatte keine Ahnung, was sie besaß. Dorothy lebte in einem kleinen Apartment, sie hatte noch das Piano, an dem Frank an den Nachmittagen immer gerne gesessen und die leichtfüßige Musik gespielt hatte, die sie so mochte. Sie hatte ein kleines Einkommen und ihre Rentenversicherung. Jeden Sommer fuhr sie für ein paar Wochen Katrina Loes besuchen, eine Freundin aus Kindertagen,
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