Alles, was ist: Roman (German Edition)
die ein Haus auf den Thousand Islands besaß. Sie hatte nie um etwas gebeten – ihre Bedürfnisse waren bescheiden. Wenn du irgendetwas brauchst … hatte Bowman gesagt. Die Antwort war immer nein, sie brauche nichts.
Als Anet in dem Sommer von der Schule nach Hause kam, hatte sie sich verändert, auch wenn sie ihrer Mutter gegenüber noch immer liebevoll war und ausgeglichen wirkte. Sie hatte das Leben entdeckt, war Menschen begegnet, vielleicht einer besonderen Person, aber sie schien keinen Freund zu haben. Sie war sich ihres Aussehens bewusst. Sie spielte damit, wenn auch nicht bei Bowman. Sie war an Bowman gewöhnt und nannte ihn Phil. Im Sommer sah man nicht viel von ihr, sie war mit ihren Freunden unterwegs, sie spielten Tennis oder lagen bei jemandem am Pool oder redeten miteinander, ununterbrochen, wie es schien.
An einem heißen Nachmittag, sie war oben in ihrem Zimmer, hörten sie plötzlich einen beängstigenden Schrei. Christine rannte zur Treppe.
»Was ist los? Anet!«, rief sie.
Anet war im Schlaf auf eine Wespe gerollt. Der Stich hatte sie geweckt. Es tat weh, und sie weinte. Der Schmerz war so plötzlich gekommen. Christine versuchte sie zu trösten. Bowman kam mit einem in kaltes Wasser getränkten Waschlappen.
»Das wird schon«, versprach er. »Leg das drauf. Wo ist sie denn hin?«
»Wo ist wer?«
»Die Biene.«
»Ich weiß nicht«, sagte Anet schluchzend.
»Wenn sie einen stechen, verlieren sie ihren Stachel. Er wird herausgerissen. Du darfst ihn aber nicht rausziehen.«
Es war keine Biene gewesen, auch wenn sie das nicht wussten. Anet hatte in Unterhose geschlafen, die jetzt halb heruntergezogen war.
»Das wird schon«, sagte er.
»Es tut aber weh.«
Sie atmete in kurzen, unregelmäßigen Zügen.
»Kannst du was sehen?«, fragte sie.
Als wären sie beim Zelten, zog sie den Gummizug noch weiter nach unten und drehte den Kopf nach hinten, um etwas zu sehen. Sie sah perfekt aus, bis auf eine kleine rote Stelle.
»Halb so schlimm«, sagte Bowman und spielte es herunter. »Jetzt zeig die andere Seite«, spaßte er.
»Die andere Seite ist in Ordnung«, sagte sie kühl.
Aber er fühlte sich entspannt mit ihr, als wäre sie noch ein Kind, vielleicht sogar seins, und vielleicht spürte sie es auch.
An einem frühen Abend saß er vor dem Haus und rauchte eine Zigarette. Er blickte über die glatte Oberfläche des Teichs, der vollkommen unberührt dalag, zu den anderen Häusern, in denen bereits Lichter brannten, und ein Auto, halb von Bäumen verdeckt, fuhr langsam den Weg herauf. Der Himmel war klar, ein dunkelndes Blau. Im Westen war eine Wolkenbank zu sehen, durch die ab und zu ein paar Lichter flackerten. Es war nichts zu hören. Es war noch zu weit entfernt. Nur das Schwarz der Wolken wurde unheimlich erhellt. Schließlich kam ein erstes leises Grollen.
Christine kam auf die Veranda.
»War das ein Donner?«
»Ja. Siehst du? Dort drüben.«
Sie setzte sich neben ihn.
»Ich wusste gar nicht, dass du rauchst«, sagte sie.
»Ja, hin und wieder«, sagte er. »Eigentlich rauche ich Gauloises. Wie die französischen Filmstars, aber man bekommt sie hier nicht. Das hier ist nur eine normale Zigarette.«
»Oh, sieh nur«, sagte sie.
Am Himmel fuhr eine gezackte Linie aus strahlendem Weiß zur Erde. Nach einer ganzen Weile war ein gedämpftes Grollen zu hören.
»Es wird Gewitter geben.«
»Ich liebe Gewitter.«
»Wenn man die Sekunden mitzählt, kann man sagen, wie weit es noch entfernt ist.«
»Und wie?«
»Es ist etwa eine Meile für alle fünf oder sechs Sekunden zwischen Blitz und Donner.«
Sie wartete bis zum nächsten Blitz und begann zu zählen.
»Wie viel waren das, zwölf?«
»In etwa.«
Der Donner war undeutlich, es war schwer zu sagen. Dann wurde der Donner bedrohlicher, wie das Brüllen eines riesigen Tiers. Das Gewitter kam näher und auch mit größerer Geschwindigkeit. Der Himmel war dunkel, durchzogen von Blitzen und kleineren elektrostatischen Entladungen. Wind war aufgekommen. Es roch nach Regen.
»Bleiben wir hier draußen?«, sagte sie.
»Nur ein paar Minuten.«
Die große Gewitterwolke, ihr vorderer Rand, zog bereits über sie. Sie war fast schwarz, von ungeheurer Größe, wie eine Bergwand türmte sie sich über ihnen auf. Sie schien die Welt zu verdecken. Der Blitz schlug ungefähr eine halbe Meile vor ihnen ein, es folgte ein lautes Krachen, fast augenblicklich schlug ein zweiter Blitz ein, noch näher, mit einem ohrenbetäubenden Knall.
»Wir
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