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Alles, was ist: Roman (German Edition)

Alles, was ist: Roman (German Edition)

Titel: Alles, was ist: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Salter
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der Vorkriegszeit, die dunkelgrünen Wälder der Slowakei, Paris, das London Dickens’.
    Baum gab eine Party. Bowman war lange nicht dort gewesen. Als sie das Apartment betraten und ein Mann mit weißem Jackett ihre Mäntel entgegennahm, dachte er zurück an das erste Mal, als er mit Vivian dort gewesen war, ihre selbstsichere, junge Naivität.
    »Philip, wie schön dich zu sehen«, begrüßte ihn Diana.
    »Das ist Christine Vassilaros«, sagte er.
    »Hallo«, sagte Diana und nahm Christines Hand. »Kommt herein.«
    Das Zimmer war voller Menschen, Diana schenkte Christine besondere Aufmerksamkeit, sie hatte zweifellos von ihr gehört. Sie wusste von ihrer Tochter und fragte:
    »Wie alt ist sie?«
    »Sie ist sechzehn.«
    »Sie muss eine Schönheit sein«, sagte Diana mit ehrlichem Interesse. »Unser Sohn Julian geht auf die juristische Fakultät in Michigan. Er wollte nicht nach Harvard. Er sagte, es sei elitär. Ich wollte ihn umbringen.«
    »Wie wär’s mit einer Zigarre?«, fragte Baum Bowman.
    »Nein, danke.«
    »Die sind wirklich gut. Aus Kuba. Nimm eine und rauch sie später. Ich hab mir das mit den Zigarren angewöhnt. Eine am Tag. Am Abend sitze ich gerne und rauche eine nach dem Essen. Man soll Zigarren genau sechsundzwanzig Mal an die Lippen setzen, na ja, das hat man mir zumindest gesagt. Sonst ist man ein Hinterwäldler, meinte Cheever. Eigentlich sprach er darüber, wie man Zigarren richtig hält. Das hab ich aber vergessen.«
    »Was ich wirklich bedauere«, sagte Diana zu Christine. »Dass wir nicht mehr Kinder haben. Ich wünschte, wie hätten drei oder vier.«
    »Vier ist eine Menge.«
    »Es waren die glücklichsten Tage in meinem Leben, als Julian noch ein kleiner Junge war. Nichts kommt dem wirklich gleich. Sie haben Glück«, sagte sie zu Christine. »Sie können noch Kinder bekommen. Darum geht es doch im Grunde, ich meine, wirklich. Jetzt sind wir mehr oder weniger ungebunden. Wir fahren nach Italien. Es ist wunderschön, aber dann denke ich an die Liebe eines kleinen Jungen.«
    »Ich liebe Italien«, sagte Baum. »Die Menschen dort. Also, ich rufe meinen italienischen Kollegen an, und seine Sekretärin geht ans Telefon – seine Assistentin sollte ich sagen. Roberto! Wie schön, von dir zu hören! Du solltest hier in Rom sein, es ist so ein schöner Tag, die Sonne scheint, du solltest hier sein! Sie sind einfach einmalig.«
    »Warum nennst du sie seine Assistentin?«, fragte Diana.
    »Dann eben Sekretärin.«
    »Sie sind nicht alle so. Sie trällert schon ein wenig. Eduardo ist ganz anders. Man ruft ihn an, und er sagt: Hallo, ich fühl mich schrecklich, die Welt ist ein Chaos. Er ist der Verleger.«
    Andere Gäste kamen herein, Diana ging, um sie zu begrüßen. Baum blieb und redete noch eine Weile mit Christine, er mochte ihr Aussehen. Nach der Party fragte er seine Frau:
    »Was hältst du von Philips neuer Freundin?«
    »Ist sie neu?«
    »Also nicht wirklich neu, aber sicher auch nicht alt.«
    »Nein, sie ist schon deutlich jünger.«
    »Es macht ihn ein wenig jünger.«
    »Ja, so nimmt man allgemein an«, sagte Diana.
    In jenem Frühjahr starb Beatrice Bowman. Sie war bereits eine lange Zeit schwach und desorientiert gewesen. Sie hielt ihren Sohn für jemand anderes, und wenn er sie besuchte, gab es lange Schweigepausen, auch wenn sie sich zumindest seiner Gegenwart bewusst zu sein schien, während er neben ihr saß und las. Der Welt, die sie kannte, ihren wenigen Freunden, die sich nach und nach entfernt hatten, jedem außer ihm und Dorothy war es egal, ob sie lebte. Was ihr Leben einmal gewesen war – die Menschen, die sie kannte, der tiefe Schatz an Erinnerungen und Wissen –, war verschwunden oder verdorrt und zerfallen. So schien es zumindest, wenn sie in klaren Momenten darüber nachdachte. Sie hätte so nicht weiterleben wollen, aber sie hatte es nicht verhindern können. Äußerlich war sie noch attraktiv, mit nur wenigen sanften Falten, auch wenn sie leicht erschrocken wirkte. Sie hatte sich viele Male ein letztes Mal verabschiedet.
    Im Gegensatz zu ihrer gewohnten Unruhe starb sie friedlich. Sie wachte einfach eines Morgens nicht mehr auf. Vielleicht hatte sie am Abend zuvor etwas gespürt, eine nicht ganz so vertraute Traurigkeit, ein Schwinden der Kraft. Außer dem fehlenden Atem war der eine Schlaf vom anderen nicht zu unterscheiden.
    Sie hinterließ keine letzten Weisungen. Bowman und Dorothy stimmten überein, dass sie eingeäschert werden sollte, und sie gingen gemeinsam

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