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Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)

Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)

Titel: Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michail Gorbatschow
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eröffnet, stellte Tichonow einen Geschäftsantrag, um möglichen Überraschungen von Ustinow zuvorzukommen, und schlug vor, Tschernenko zum Generalsekretär zu wählen. Vielleicht hatte Ustinow mit einer Ablehnung von Tschernenko selbst gerechnet, der seinen Gesundheitszustand kannte und selbstkritisch hätte sehen müssen, dass die Leitung des Landes ihn überfordern würde. Aber das geschah nicht. Äußerungen »gegen« eine Kandidatur gehörten nicht zur Tradition dieses Politbüros. Also schlossen sich alle dem Vorschlag Tichonows an und stimmten »dafür«, so auch ich. Als Rechtfertigung konnte man sich sagen: »Hauptsache, es kommt nicht zur Spaltung.«
    »Kostja, ja, das ist es, was wir brauchen«, hatte Tichonow gesagt. Aber für die Gesellschaft war die Wahl Tschernenkos ein Schock. Sie fragte sich: Hätte man denn nicht irgendeinen anderen finden können, einen Lebhafteren, Jüngeren? Nein, wieder nichts …
    Nach der Politbürositzung und in den folgenden Tagen wirkte Ustinow, sonst immer guter Laune und voller Lebensfreude, sodass er nur schwer aus der Fassung zu bringen war, niedergeschlagen, war schweigsam und verschlossen. Auf der Plenartagung des ZK sah ich dann die anderen Gesichter: diejenigen, für die es Zeit gewesen wäre, in Pension zu gehen, und diejenigen, die schon in Pension gegangen, aber im ZK geblieben waren und sich von dem Schrecken, von den Neuerungen Andropows erholt hatten. Sie hatten Mut gefasst und hofften, dass ihre Zeit wiedergekommen sei, die ruhige, »stabile« Breschnew-Zeit.
    Wen hatten wir nun als Generalsekretär bekommen? Nicht nur einen physisch schwachen Mann, sondern einen Schwerkranken, praktisch einen Invaliden. Das war für niemand ein Geheimnis, man sah es mit bloßem Auge. Seine Schwäche, die erschwerte Atmung, ja Atemnot (er hatte ein Lungenemphysem) waren nicht zu verbergen. Der britische Arzt, der Margaret Thatcher bei der Beerdigung Andropows begleitete, veröffentlichte eine Prognose über die Lebenserwartung Tschernenkos und irrte sich nur um ein paar Wochen.
    Andropows Tod und die Wahl Tschernenkos zum Generalsekretär weckten bei den Gegnern von Veränderungen neue Hoffnung. Ohne sich zu tarnen, verstärkten sie den Druck auf Tschernenko, um mit den Vorhaben Andropows und seinem Arbeitsstil aufzuräumen.
    Als Erste bekamen das die Anhänger Andropows zu spüren, darunter auch ich. Das war keine Überraschung für mich. Schon 1983 , als Andropows Gesundheitszustand sich rapide verschlechterte, erfuhr ich davon, dass gewisse Leute Belastungsmaterial gegen mich suchten. An dieser »Jagd« beteiligten sich sogar die administrativen Organe. Später, als ich Generalsekretär war, erfuhr ich das in allen Details vom neuen Innenminister Alexander Wlasow. Ich war also psychologisch auf derartige Intrigen vorbereitet und wusste, dass versucht wurde, mich auszuschalten. Das äußerte sich sofort auf der ersten Politbürositzung, als es um die Aufgabenverteilung in Politbüro und ZK -Sekretariat ging.
    Die allgemeine Leitung und die Leitung des Politbüros wurden dem Generalsekretär überlassen. Für die Leitung des Sekretariats wurde ich vorgeschlagen. Aber Tichonow hatte an seiner Führerrolle Geschmack gefunden und erklärte barsch: »Ich verstehe nicht, warum wir die Leitung des Sekretariats Gorbatschow übertragen sollen, bekanntlich befasst sich Michail Sergejewitsch mit Agrarpolitik. Ich fürchte, das Sekretariat wird von ihm für die Behandlung von Agrarproblemen umfunktioniert und als Druckmittel benutzt. Das führt unweigerlich zu Verzerrungen.«
    Ich saß da, hörte zu und schwieg.
    Ustinow entgegnete, Gorbatschow habe doch bereits das Sekretariat geleitet, und es habe keinerlei Beanstandungen gegeben. Im ersten Anlauf gelang es ihnen also nicht, mich abzuschmettern. Daraufhin drängten Grischin und Gromyko auf eine spätere Entscheidung, womit sie im Grunde genommen Tichonow unterstützten. Aber das Haupthindernis in Gestalt von Ustinow war noch nicht aus dem Weg geräumt. Tschernenko versuchte, sich durchzusetzen, was wenig überzeugend war. Ich hatte das Gefühl, die Rollen in diesem Spektakel standen schon vorher fest. Unter Tschernenko kam es bis zum Schluss nicht dazu, dass mir die Leitung des Sekretariats offiziell übertragen wurde.
    Faktisch aber leitete ich das Sekretariat nach wie vor und hielt den Generalsekretär ständig auf dem Laufenden. Die Sitzungen fanden regelmäßig statt, die Fragen, die behandelt wurden, waren unterschiedlich:

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