Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
Übergriff aufgenommen, als Versuch, ihn zu belehren. Ich versicherte Andropow noch einmal, nur er könne mit seiner Rede die Situation retten.
Als Tschernenko sein Referat vortrug, beobachtete ich Andropow. Während Tschernenko sich mühevoll durch Simjanins Wortreichtum kämpfte, wurde Andropows Gesicht immer länger. Er rief mich zu sich und sagte: »Setz dich nach der Pause hierhin, du musst den Vorsitz führen.«
Man muss wissen, was das damals hieß, um den Schlag zu verstehen, den er Tschernenko damit versetzte. Er saß nach der Pause abseits und konnte der Diskussion kaum folgen. Erst am nächsten Tag, als er beauftragt wurde, die Sitzung des Plenums zu leiten, kam er langsam wieder zu sich.
Als Andropow und ich uns austauschten, kamen wir zu dem Schluss, die Plenartagung sei so verlaufen, wie sie Tschernenko & Co vorbereitet hatten. Mit anderen Worten: Sie war umsonst.
Diese Plenartagung war ein Einschnitt – danach ging es wieder bergab.
Im September fuhr Andropow auf die Krim. Ich hatte regelmäßig telefonischen Kontakt mit ihm, und nach den Gesprächen zu schließen, fühlte er sich sehr viel besser.
Als ich wieder einmal anrief, bekam ich die Antwort, Andropow sei in die Berge gefahren, nach Dubrawa. Das wunderte mich nicht, denn ich wusste noch aus Kislowodsk, dass er die Berge entschieden lieber hatte als das Meer; zumal ihm die Ärzte das Schwimmen verboten hatten, da die physische Belastung für ihn zu groß sei. Zwei Stunden später rief Andropow selbst an: »Hast du mich gesucht?«
»Ja, ich wollte Sie über die laufenden Ereignisse informieren.«
»Ich bin für ein paar Tage nach Dubrawa gefahren. Hier ist es schön, das Wetter ist herrlich.«
An seinem Ton hörte ich, dass er hervorragender Laune war. Das war lange nicht mehr vorgekommen, offenbar taten ihm die Bergluft und die dortige Natur gut. Ich konnte nicht ahnen, dass dies das letzte Mal sein sollte, dass er so gute Laune hatte.
Zwei, drei Tage später wurde bekannt, dass sich Andropows Gesundheitszustand stark verschlechtert hatte. Was passiert war, wie er sich erkältet hatte, all die medizinischen Details weiß ich nicht. Man brachte ihn auf seine Datscha auf der Krim und von da mit dem Flugzeug schnellstens nach Moskau direkt in die Zentrale Klinik. Eine qualvolle, in jeder Hinsicht schwierige Zeit begann …
Vor allem als Mensch tat mir Andropow leid. Er litt entsetzlich. Wir unterhielten uns am Telefon, und wenn die Ärzte es zuließen, fuhr ich ins Krankenhaus. Es besuchten ihn praktisch alle. Die einen seltener, die anderen häufiger, die einen, um ihn zu unterstützen, die anderen, um zu prüfen, in welchem Zustand er war. So vergingen der Oktober und der November. Zu dem mit der Krankheit zusammenhängenden Leid kam noch hinzu, dass Andropow die allgemeine Veränderung der Atmosphäre an der Spitze, die Intrigen und das Gerangel durchaus mitbekam.
Aufgrund der Krankheit des Generalsekretärs wurden die Sitzungen des Politbüros und des Sekretariats von Tschernenko geleitet. Nur manchmal beauftragte er mich, das Sekretariat zu leiten. Tichonow unternahm einen Versuch, den Vorsitz im Politbüro zu übernehmen. Aber es gelang ihm nicht – hauptsächlich wegen Andropow, der trotz seines schlechten Gesundheitszustands seinen klaren Verstand behielt.
Noch auf der Krim hatte mir Andropow in einem Telefongespräch gesagt, ich solle bei der nächsten Plenartagung des ZK im November unbedingt das Schlusswort nach der Diskussion übernehmen.
»Muss das sein?«, fragte ich, wohl wissend, wie eifersüchtig die Kollegen im Politbüro über solche Dinge wachten.
»Ja«, bekräftigte er. »Bereite dich auf das Schlusswort vor. Wenn ich zurückkomme, sprechen wir darüber.«
Ich überdachte meine Rede, analysierte die politischen und praktischen Ergebnisse der vorangegangenen neun Monate, da kehrte Tichonow aus dem Urlaub zurück. Als er erfuhr, dass ich beabsichtige, auf der Plenartagung zu sprechen, rief er sofort Andropow an und erklärte: Da Gorbatschow das Wort erteilt werde, müsse er ebenfalls zu Wort kommen.
»Was hätte ich ihm antworten sollen?«, erzählte mir Andropow am Telefon. »Ich habe gesagt: Wenn du auftreten willst, bitte. Bereite dich vor und halte eine Rede.«
Das ganze Gerangel um die bevorstehende Plenartagung hatte einen unguten Unterton, es ging um die Verteilung der Macht. Die Unterhaltungen, die aus diesem Anlass im Politbüro stattfanden, hatten einen unangenehmen Beigeschmack. Es war, als
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