Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
Und wie steht es mit Andropows Rolle bei der Niederschlagung des Ungarn-Aufstands, des Prager Frühlings und beim Krieg mit Afghanistan? Und schließlich beim Kampf gegen »Andersgesinnte« und »Dissidenten«, als schon die Versuche, von Freiheit und Menschenrechten zu sprechen, als kriminell galten?
Offenbar hatte sich die langjährige Arbeit im KGB mit ihrer »Spezifik« auf seine ganze Person und seine Positionen ausgewirkt, hatte ihn misstrauisch und systemkonform gemacht. Nein, Andropow wäre nicht zu radikalen Veränderungen bereit gewesen, genauso wenig wie Chruschtschow. Und vielleicht war das Schicksal ihm gnädig, dass er starb, ohne es mit den Problemen zu tun zu bekommen, die zwingend aufgetaucht wären und zu seiner Enttäuschung und zur Enttäuschung über ihn geführt hätten.
Die Zeit Andropows an der Spitze der Macht war kurz, flößte den Menschen aber Hoffnung ein. Ich denke oft an die südliche Nacht bei Kislowodsk, an den sternenübersäten Himmel, das hell lodernde Lagerfeuer, als Andropow in verträumter, heiterer Stimmung ins Feuer schaute. Vom Tonband ertönte die ausgelassene Lieblingsmusik Andropows, ein Lied von Jurij Wisbor:
Wer will das? Niemand.
Wer braucht das? Niemand.
Tschernenko
Für den geeignetsten Nachfolger Andropows hielt ich damals Ustinow, obwohl er schon 75 Jahre alt war. Warum? Er war meiner Ansicht nach der Einzige, der die politische Linie Andropows hätte fortführen können. Die beiden waren enge Freunde, und er hätte die Veränderungen bewahren und weiterentwickeln können, die Andropow eingeleitet hatte. Außerdem genoss Ustinow große Autorität in der Partei und in unserem Land. Ich drängte ihn, wie ich konnte, weil ich keine anderen Kandidaten sah. Die einen konnten nicht mehr die verantwortliche Funktion eines Generalsekretärs übernehmen, die anderen konnten es noch nicht. Ustinow hätte eine gewisse Zeit erfolgreich arbeiten und eine neue Führungsgeneration heranbilden können. Später erfuhr ich, dass auch meine Kandidatur in Erwägung gezogen wurde.
Am zweiten oder dritten Tag nach der Beerdigung besuchte Raissa Andropows Witwe. Krank und erregt erhob sie sich vom Bett und jammerte laut: »Warum haben sie Tschernenko gewählt?! Mein Mann wollte Michail Sergejewitsch!«
Raissa beruhigte sie und bemühte sich, von diesem Thema abzulenken.
Das passt zu den oben erwähnten Gerüchten über die Korrekturen, die von der ZK -Abteilung für Allgemeines in Andropows Rede auf der Plenartagung im Dezember angebracht worden sein sollen.
Und noch etwas. Einer meiner Mitarbeiter, mit dem mich viele Jahre gemeinsamer Arbeit verbinden, erzählte mir von einer Unterhaltung mit Kornijenko, dem damaligen Ersten Stellvertreter des Außenministers. Mit Berufung auf Gromyko hatte dieser erzählt, sofort nach Andropows Tod hätten sich Gromyko, Ustinow, Tichonow und Tschernenko im »engen Kreis« getroffen, sich aber nicht auf eine Kandidatur des neuen Generalsekretärs einigen können. Ustinow habe erklärt, dann müsse das Politbüro eben die Auswahl treffen. Er persönlich befürworte Gorbatschow. Ob das wirklich so war, weiß ich nicht. Es gibt auch andere Versionen.
Das Gespräch im »engen Kreis« fand im Büro eines Stellvertreters des Leiters der ZK -Abteilung für Allgemeines statt. Nach dem Gespräch blieb Tschernenko in dem Büro, während Gromyko, Ustinow und Tichonow auf den Flur gingen. Dort warteten ihre persönlichen Mitarbeiter und Leibwächter auf sie, die in solchen Momenten vor Neugierde zu platzen pflegten. Zu ihrem Glück war Tichonow schwerhörig und hatte wie alle diese Leute die Angewohnheit, extrem laut zu sprechen. Nach den Worten von Augenzeugen soll er auf einmal so laut, dass sich alle im Flur umdrehten, gesagt haben: »Ich glaube, wir haben alles richtig gemacht. Michail ist noch zu jung. Wer weiß, wie er sich an dieser Stelle verhalten wird. Kostja, ja, das ist es, was wir brauchen.«
Ich wiederhole noch einmal: Welche dieser Versionen stimmt, ob sie sich im »engen Kreis« auf Tschernenko einigten oder nicht, weiß ich nicht. Aber dass Andropow und Ustinow meine Kandidatur wollten, hat mir Ustinow selbst etwas später erzählt. Warum es dann anders kam, erklärte er mir nicht. Und natürlich habe ich ihn auch nie danach gefragt.
Wie dem auch sei, die Wahl des neuen Generalsekretärs verlief äußerst einfach, um nicht zu sagen banal. Der hyperaktive Tichonow entschied alles. Kaum hatte Tschernenko die Sitzung des Politbüros
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