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Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)

Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)

Titel: Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michail Gorbatschow
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habe es mir überlegt und beschlossen, das Thema nicht anzuschneiden. Arbeite weiter wie bisher.«
    Später, wohl im Jahr 1989 , schickte mir Tichonow einen Brief mit einer Entschuldigung und bot mir seine Dienste bei der Reformierung der Wirtschaft an. Aber in den damaligen Jahren ließ der Druck durch Tschernenko auf mich nicht nach. Deshalb war ich immer froh, wenn es mir gelang, mich aus Moskau loszureißen und auf Reisen zu gehen.
    Im ganzen Jahr 1984 kennzeichneten Intrigen, Gerangel und Klatsch die allgemeine Atmosphäre. Tschernenkos Krankheit schritt fort, die Situation im Politbüro spitzte sich zu, der latente Zwist wuchs. Ich möchte nicht alle Wechselfälle dieser Zeit beschreiben – das ist überflüssig. Doch was für Formen das annahm, zeigt die Geschichte der wissenschaftlichen und praktischen Allunionskonferenz zu ideologischen Problemen.
    Das Thema hatte Tschernenko vorgegeben. Es ging darum, wie die Beschlüsse der Plenartagung zu ideologischen Fragen vom Juni 1983 umgesetzt werden sollten. Simjanin bat mich, ein allgemeines Referat zu halten, weil mir Tschernenkos früheres Arbeitsgebiet, die Ideologie, übertragen worden war. Die Materialien zu dem Referat, die mir von der entsprechenden Abteilung des ZK vorgelegt wurden, enttäuschten mich zutiefst: »Simjanin-Kauderwelsch«, ideologischer Schematismus, eine Sammlung von Binsenweisheiten, Phrasendrescherei – als wollte man mich kompromittieren. Doch das spornte mich nur an.
    Ich bildete eine Gruppe aus Medwedew, Jakowlew (er leitete damals das Institut für Weltwirtschaft und Internationale Beziehungen), Bikkenin und Boldin. Ich wollte die Gelegenheit nutzen, um über die meines Erachtens fehlgeschlagene Juni-Plenartagung hinauszugehen. Bei der Vorbereitung auf die Tagung interessierten wir uns für folgende wichtige theoretische und praktische Fragen: Eigentum, der Charakter der Produktionsbeziehungen in unserer Gesellschaft, die Rolle der Interessen, soziale Gerechtigkeit, Ware-Geld-Beziehungen u.a. Wir kamen gut voran, das Material war gehaltvoll und solide.
    Das gefiel allerdings nicht allen. Simjanin war unzufrieden und machte Ärger. Ich gab ihm den Entwurf. Mir gegenüber brachte er keine Kritik an, bat nur, die These von der führenden Rolle der Partei in der gegenwärtigen Phase plastischer hervorzuheben, aber Medwedew sagte er im Gespräch, das Referat sei misslungen.
    Die Teilnehmer an der Tagung trafen in Moskau ein. Alles war vorbereitet. Plötzlich, buchstäblich am Vorabend der Eröffnung, rief mich Tschernenko um 16  Uhr an und forderte, alles müsse abgesagt werden. Er halte es nicht für sinnvoll, zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine Konferenz zur Ideologie abzuhalten, denn der Parteitag stehe bevor, müsse vorbereitet werden, und man müsse Ideen dazu sammeln. Tschernenkos Ton verriet mir, dass er nicht allein in seinem Büro war. Die Aufgabe derer, die in seinem Zimmer waren, bestand offenbar darin, den schwachen, schwankenden Chef auf Kurs zu halten.
    Der unerwartete Rückzug empörte mich, ich protestierte, und zwar in recht scharfer Form. Ich habe mich vielleicht etwas hinreißen lassen, aber die Schliche der Meute, die um den Generalsekretär herumstrich, ließ mich aus der Haut fahren. Ich erinnerte ihn daran, dass die Konferenz, zu der die Leute schon aus dem ganzen Land angereist waren, nicht meine, sondern seine Idee gewesen war, ich hätte nur seinen Auftrag ausgeführt. Ich wüsste nicht, wer die Motive für die Absetzung erklären wolle. Ein solcher Schritt sei unmöglich und bedeute einen öffentlichen Skandal. Und ich schloss mit der Frage: »Wer bringt Sie aus dem Konzept?«
    »Gut«, sagte er, »dann halten Sie sie eben ab, aber machen Sie keinen großen Wirbel darum.«
    Die Konferenz fand statt und verlief erfolgreich. Ich entwickelte in meinem Referat das Thema der Demokratisierung der Gesellschaft. Aufgrund der neuen Herangehensweise und der kreativen Diskussion war die Konferenz ein Kontrastprogramm zu der üblichen ideologischen Gebetsleier der vergangenen Jahre. Schon der Titel des Referats »Das lebendige Werk des Volks« regte zum Nachdenken an.
    Die Teilnehmer der Konferenz bestanden darauf, das Referat solle veröffentlicht werden. Ich sagte das zu. Aber die
Prawda
brachte leider nur eine kurze Zusammenfassung. Um den Effekt der Konferenz zu annullieren, wurde auf der Stelle ein Artikel von Tschernenko ausgearbeitet und umgehend in der Dezemberausgabe der Zeitschrift
Der Kommunist
gedruckt.
    1984

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