Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
begrübe man einen Menschen bei lebendigem Leibe. Schließlich platzte Andropow der Kragen.
Kaum hatte ich an einem Dezembertag die Schwelle zu meinem Büro übertreten, da kam Ryschkow angelaufen: »Andropow hat soeben angerufen. Er ist in einem entsetzlichen Zustand. Er fragte: ›Ihr habt also im Politbüro die Wahl eines neuen Generalsekretärs beschlossen?‹ Ich antwortete: ›Wie kommen Sie denn darauf, davon kann keine Rede sein!‹ Aber er wollte sich nicht beruhigen.« Ich rief sofort die Ärzte an und verabredete einen Besuch bei Andropow für den nächsten Tag.
Als ich ins Krankenzimmer kam, saß er im Sessel und versuchte zu lächeln. Wir begrüßten und umarmten uns. Die Veränderung, die seit dem letzten Treffen mit ihm vor sich gegangen war, war niederdrückend. Sein Gesicht war eingefallen, wächsern und grau. Die Augen waren matt geworden, er konnte kaum die Wimpern heben, auch das Sitzen fiel ihm offensichtlich sehr schwer. Es kostete mich enorme Anstrengung, nicht die Augen abzuwenden und meine Erschütterung irgendwie zu verbergen. Das war mein letztes Treffen mit Andropow.
Seine persönlichen Mitarbeiter besuchten Andropow fast täglich. Meistens waren es Laptew und Wolskij. Offenbar stammte die Idee, eine Rede Andropows auszuarbeiten und den Text unter den ZK -Mitgliedern zu verteilen, von ihnen. So wurde es denn auch gemacht. Zu dieser Rede hatte Andropow eigenhändig hinzugefügt: »Im Staatsinteresse schlage ich aufgrund meiner schweren Krankheit im Sinne einer kontinuierlichen Führung der Partei und des Landes vor, Gorbatschow mit der Leitung des Sekretariats zu beauftragen.« Der Text wurde an die ZK -Mitglieder verteilt – aber der eigenhändige Zusatz Andropows fehlte (!).
Das Plenum hörte die Referate von Bajbakow und Garbusow an, verabschiedete den Plan und den Haushalt. Worotnikow und Solmenzew wurden als Mitglieder, Tschebrikow als Kandidat ins Politbüro gewählt, Ligatschow stieg zum ZK -Sekretär auf. Zur Diskussion meldeten sich Tichonow und ich. Denjenigen, die den Zusatz aus der Rede des Generalsekretärs gestrichen hatten, war klar, dass wir vor einer Neuwahl des Parteichefs standen.
Andropows Tod [26] war ein schwerer Schlag für mich. Es gab in der Führung des Landes keinen Menschen, mit dem ich so eng verbunden gewesen wäre. Er begegnete mir immer mit Wohlwollen und Vertrauen und ließ mir gegenüber nie die Arroganz eines erfahrenen politischen Leaders durchblicken, der schon lange gewohnt ist, Schicksal zu spielen. Ich kann nicht sagen, dass er sich mir gegenüber ganz öffnete und mir alles offenbarte, aber er wich einer Antwort auf meine Fragen nie aus.
Im Politbüro reagierte man auf den Tod des Generalsekretärs unterschiedlich: In den Gesichtern der einen stand Trauer, in denen der anderen unverhohlene Freude. Auch einige Sekretäre des ZK waren erfreut und verbargen das auch nicht.
Andropow war zweifellos eine Persönlichkeit von überdurchschnittlicher und weitsichtiger Begabung, ein echter Intellektueller. Er wandte sich entschieden gegen alles, was wir mit der Breschnew-Ära verbanden, gegen Begünstigung von Personen, den Kampf hinter den Kulissen, Korruption, moralische Verwahrlosung und Bürokratismus. Damit entsprach er auch den Erwartungen der Menschen. Wenn es stimmt, dass unser Volk eine tiefe Aversion gegen die Beamten, ein kritisches Verhältnis gegenüber jeder Obrigkeit hat, dann haben die Prozesse der letzten Jahre unter Breschnew diese Gefühle sicher verschärft. Deshalb wurde die feste, ja mitunter sogar zu feste Haltung Andropows mit Hoffnung aufgenommen.
Was er tat, wurde als Beginn allgemeiner tiefergehender Änderungen bewertet. Man sprach vom »Andropow-Phänomen« in unserem Land. Ich verstehe das so: Mit dem Antritt des neuen Leaders kamen allgemeine Erwartung und Hoffnung auf, während alles Negative, was sich im Bewusstsein der Menschen mit Breschnew verband, nicht mehr akzeptiert und abgelehnt wurde. Ob Andropow wohl weiter gegangen wäre und radikale Änderungen durchgesetzt hätte, wenn sich sein Schicksal anders entwickelt hätte? In einigen Dingen ja; aber grundsätzliche Änderungen des Systems hätte er kaum eingeleitet.
Oft denke ich: Andropow wusste wie kein anderer von den Verbrechen Stalins, hat aber diesen Punkt nie angeschnitten. Er hatte die Versuche Breschnews gesehen, Stalin und das Modell seiner Gesellschaftsordnung wiederzubeleben, hat aber noch nicht einmal den Versuch unternommen, sich dem zu widersetzen.
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