Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
offensichtlich ihre Vorurteile gegen die »Kreml-Ladys« hatte, ihren Lesern ausführlich und mit Wohlwollen davon.
Meine Ansprache im britischen Parlament am 18 . Dezember kam gut an. Zwar begegnete ich anfangs auch hier dem Versuch, auf Konfrontation zu gehen, aber ich schritt gleich dagegen ein und sagte: »Wenn Sie das Gespräch in dieser Weise führen wollen, ziehe ich alle mitgebrachten Papiere und Dokumente aus der Tasche und liste alles auf, was von britischer Seite gegen die Sowjetunion und gegen eine Aufnahme normaler Beziehungen unternommen wurde. Wem hilft das?« Daraufhin nahm das Gespräch einen konstruktiven und durchaus freundschaftlichen Verlauf.
Im Anschluss fanden Treffen mit Ministern, Parteiführern und Wirtschaftsfachleuten statt. Wir besichtigten die Fabriken von Austin-Rover und John Brown, das Forschungszentrum Gelotts Hill, die Handels- und Industriekammer, das British Museum und die Karl-Marx-Gedenkbibliothek. Das Grab von Marx, das ein Teil unserer Delegation aufsuchte, habe ich mir nicht ansehen können.
Die englische Presse berichtete ausführlich über unseren Besuch. Was die Berichterstattung bei uns zu Hause betraf, so wurde versucht, unseren Aufenthalt in England auf Wink von oben totzuschweigen. Dobrynin, unser Botschafter in den USA , erzählte mir, die amerikanische Presse habe großes Interesse an dem Besuch gezeigt. Aus diesem Anlass sandte er zwei Telegramme an das Außenministerium mit einer detaillierten Presseschau. Normalerweise wurde eine Information dieser Art immer an die Mitglieder der Führung weitergeleitet, doch diesmal geschah das nicht. Als Dobrynin nach Moskau kam, las Gromyko ihm die Leviten: »Sie sind doch ein erfahrener Politiker, erprobter Diplomat und reifer Mann – und da schicken Sie zwei Telegramme über den Besuch einer parlamentarischen Delegation! Als ob das irgendeine Bedeutung hätte!«
In London erreichte mich eine traurige Nachricht: Ustinow war gestorben. Ich brach den Besuch ab und flog nach Moskau. Ustinows Tod war ein großer Verlust, der mich in jener wirren Zeit Ende des Jahres 1984 besonders empfindlich traf. Dieses ganze Jahr war im Grunde nichts als die Agonie des Regimes. Gebraucht wurde eine energische, erfinderische Politik. Aber die Situation der Führung war ein Debakel.
Mit Raissa auf dem Rückweg aus London, 21 . Dezember 1984
Aufgrund des Gesundheitszustands des Generalsekretärs kam es sogar zu Problemen mit den täglichen Politbürositzungen. Oft passierte es, dass die Sitzung anberaumt wurde, Tschernenko aber nicht kommen konnte. Dann kam 15 bis 30 Minuten vor Beginn ein Anruf, ich solle den Vorsitz führen. Die Reaktion des Politbüros war unterschiedlich. Die einen blieben betont gelassen und nahmen das einfach so hin; die anderen hatten kein Verständnis dafür, manche verbargen ihren Ärger immer weniger.
Zum Jahresende hatte sich dieses Problem dramatisch zugespitzt. Tschernenko fiel endgültig aus. Das Politbüro, das wichtigste politische Führungsorgan, musste funktionieren, aber es gab keinen ständigen Auftrag, wer die Leitung der Sitzungen übernehmen sollte, ob Gorbatschow, Tichonow oder wer auch immer. Ich weiß sicher, dass einige Kollegen, insbesondere Solomenzew, Tschernenko empfahlen, mir die »provisorische« Leitung zu übertragen. Doch sein Umfeld riet ihm, diese Position nicht aus der Hand zu geben. Deshalb war ich jedes Mal in einer schwierigen Situation. Und es lag nicht nur an mir, dass sie sich direkt auf die Arbeit des Politbüros und des Apparats des ZK auswirkte. In einer solchen Situation fühlen sich nur die Intriganten wie die Fische im Wasser.
Nach reiflicher Überlegung beschloss ich, mir ein paar Regeln zu eigen zu machen. Erstens: die Arbeit ruhig zu leiten, die Probleme klar anzuschneiden, der »Entourage« keine Zugeständnisse zu machen, egal wie hohe Auszeichnungen sie haben mochte. Zweitens: Loyalität gegenüber dem Generalsekretär, Abstimmung wichtiger Fragen mit ihm. Drittens: im Politbüro auf Einigkeit zu drängen, um nicht den Zerfall der zentralen Macht zu riskieren. Viertens: die Sekretäre der Zentralkomitees der Republiken, der Gebietskomitees und der Regionskomitees der Partei auf dem Laufenden zu halten. Sie mussten vom Ernst der Lage wissen und sie richtig einschätzen können.
Ich meine, diese Linie hat sich bewährt. Ich habe mich bemüht, zusammen mit meinen Kollegen die laufenden Angelegenheiten zu regeln und operative und über Operatives hinausgehende
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