Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
Ich konnte es nicht verhindern, denn Tschernenko selbst hatte es so gewollt, es war sein letzter Wille. Doch das war nur der erste Akt in Grischins Tragikomödie, zwei weitere sollten noch folgen: Tschernenko an der Wahlurne beim Einwerfen des Stimmzettels und die Aushändigung des Deputiertenausweises an den Generalsekretär.
Am 24 . Februar wurde die Urne in den Raum neben Tschernenkos Krankenzimmer gebracht und alles so hergerichtet, dass nichts auf den Ort schließen ließ. Tschernenko wurde in völlig hilflosem, kläglichem Zustand an die Urne geführt und gab in Gegenwart Grischins, Pribytkows, eines Mitarbeiters, und Prokofjews, des Ersten Sekretärs des Moskauer Bezirkskomitees Kujbyschew, vor der Fernsehkamera seine Stimme ab. Grischin hatte sein Ziel erreicht: Er hatte dem ganzen Volk am Fernsehen vorgeführt, dass der Generalsekretär in bester Form war. Das war der Gipfel des Zynismus und der Rücksichtslosigkeit derer, die sich als Tschernenkos Vertraute ausgaben, in Wirklichkeit aber nur an ihre Karriere dachten.
Doch nicht genug damit. Man hatte einen Text vorbereitet, den dieser todkranke Mann bei der Überreichung des Deputiertenausweises sprechen sollte – wieder vor der Fernsehkamera. Ich habe noch immer das Bild vor Augen: die gebückte Gestalt, die zitternden Hände, die gebrochene Stimme, die zu Disziplin und aufopferungsvoller Arbeit aufruft, und die ihm aus den Händen fallenden Zettel. Ich wusste, dass auch er selbst hinfiel, aber von Akademiemitglied Tschasow aufgefangen wurde (einem hervorragenden Kardiologen, der lange Jahre die IV . Hauptabteilung des Gesundheitsministeriums leitete). Doch dieser Zwischenfall wurde natürlich nicht gezeigt.
All das trotz der kategorischen Einwände Tschasows, mit dem Einverständnis oder auf Wunsch Tschernenkos selbst, den Grischin und andere dazu gedrängt hatten. Das war am 28 . Februar – am 10 . März war Tschernenko tot.
Am Abend war ich gerade von der Arbeit gekommen, da rief Akademiemitglied Tschasow mit der Nachricht von Tschernenkos Tod an. Ich setzte mich mit Tichonow und den anderen Politbüromitgliedern in Verbindung und beraumte eine Sitzung für 23 Uhr an. Am wichtigsten war jetzt ein Treffen mit Gromyko. Ich fand, wir sollten an einem Strang ziehen. Schließlich war die Verantwortung, die wir Politbüromitglieder hatten, enorm.
Gromyko war in Scheremetjewo. Er führte das Gespräch im Auto. Ich setzte ihn vom Tod Tschernenkos in Kenntnis, teilte ihm mit, dass für 23 Uhr eine Politbürositzung anberaumt war, und bat ihn, 30 Minuten vor Beginn da zu sein.
Wir trafen uns wie abgesprochen. Die Unterhaltung war kurz. Ich sagte, wir hätten alle damit gerechnet, dass dies eintrete. Nun sei es geschehen, und wir müssten eine weitreichende Entscheidung treffen. Wir dürften keine Fehler machen: »Die Menschen wollen Veränderungen. Die Zeit ist reif dafür. Man darf sie nicht weiter hinausschieben. Es wird nicht einfach sein, aber wir müssen uns entscheiden. Ich finde, in dieser Situation sollten wir beide an einem Strang ziehen.«
Gromyko sagte ruhig und fest: »Ich stimme mit Ihrer Einschätzung überein und nehme Ihren Vorschlag an.«
»Dann sind wir uns also einig.«
Von seiner wie von meiner Seite war dieser Schritt nicht einfach, sondern es war ein schwieriger Schritt aufeinander zu – obwohl man uns schon vorher, im Wissen, wohin sich die Dinge entwickeln, hatte näherbringen wollen. Ja, mehr als das, man hatte sowohl mit ihm als auch mit mir Gespräche darüber geführt. Weder Gromyko noch ich unternahmen demonstrative Schritte, aber wir verstanden, dass wir enger zusammenarbeiten mussten.
10 . März, 23 Uhr: Die Mitglieder des Politbüros und des ZK -Sekretariats trafen ein. Ich eröffnete die Sitzung und gab Tschernenkos Tod bekannt. Wir erhoben uns und schwiegen. Akademiemitglied Tschasow spricht. Er stellt kurz die Krankengeschichte und die Umstände von Tschernenkos Tod dar. Wir leiten die Beerdigungsfeierlichkeiten ein und beraumen eine Politbürositzung und eine ZK -Plenartagung für den nächsten Tag an.
Wir richteten eine Beisetzungskommission ein, zu der alle Politbüromitglieder gehörten. Als es um den Vorsitzenden der Kommission ging, kam es zu einer Pause; denn den Vorsitz der Beerdigungskommission eines Generalsekretärs übernahm in der Regel der zukünftige Generalsekretär. Da sagte Grischin auf einmal: »Warum bestimmen wir den Vorsitzenden nicht gleich? Es ist doch alles klar, Michail
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