Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
eine große Konferenz zu Fragen der Beschleunigung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts durch, auf der ich das Referat hielt: »Das Grundproblem der Wirtschaftspolitik der Partei«.
Wieder ein Abschied
Die Entscheidung näherte sich schnell und unaufhaltsam; daran zweifelte niemand. Den Anschein der Präsenz des Generalsekretärs und Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets im politischen Leben aufrechtzuerhalten, kostete enorme Anstrengungen. Beim Blick auf Tschernenko, dem es nicht nur schwerfiel zu arbeiten, sondern der sogar Mühe hatte zu sprechen, ja zu atmen, habe ich mich oft gefragt: Was hat ihn davon abgehalten, sich zurückzuziehen und sich um seine Gesundheit zu kümmern? Was hat ihn dazu veranlasst, sich die Last der Führung aufzubürden, der er nicht gewachsen war? Um auf diese Frage zu antworten, muss man etwas ausholen.
Natürlich fühlt sich ein Mensch, der entmachtet wird – auf eigenen Wunsch hat bei uns ja nie jemand auf die Macht verzichtet –, wie jeder, der entlassen wird, gelinde gesagt, unwohl. Aber nur zu erklären, der Mensch ist eben schwach, reicht nicht aus; das Problem ist schwieriger. Selbst das Wissen der Gesellschaft, dass physisch arbeitsunfähige Menschen das Ruder in der Hand hatten, nützte nichts. Wir hatten einfach keinen normalen demokratischen Modus für einen Machtwechsel. Das System sah das nicht vor, es lebte nach seinen Gesetzen, nach denen an der Spitze der Pyramide ein hoffnungslos kranker oder gar geistig behinderter Mann stehen konnte. Keiner wollte diese Ordnung antasten. Und plötzlich wurde diese unzulängliche Praxis durch einige Mitglieder der politischen Führung, insbesondere Grischin, an die Öffentlichkeit gezerrt und der Gesellschaft in ihrer Scheußlichkeit vorgeführt.
Das geschah im Februar 1985 während des Wahlkampfs zum Obersten Sowjet der Russischen Föderation. Einer langjährigen Tradition folgend, fanden Treffen der Politbüromitglieder mit den Wählern ihres Wahlkreises statt. Aber noch nie zuvor habe ich einen solchen Kampf um die Reihenfolge erlebt. Alle wollten ganz am Ende, direkt vor dem Generalsekretär, auftreten, denn es hieß, je später man sich mit den Wählern treffe, desto höher stehe man in der Parteihierarchie. Wer als Vorletzter drankam, stand nur einen Schritt hinter dem Generalsekretär, der stets als Letzter auftrat.
Die Wahlen waren auf den 24 . Februar angesetzt. Die Treffen der Kandidaten mit den Wählern neigten sich dem Ende zu. Da Tschernenko nicht imstande war aufzutreten, man das Treffen aber nicht absagen konnte, besprachen wir, wie das Problem mit den geringsten politischen Verlusten zu lösen sei. Ich fand, man müsse ein Schreiben vorbereiten. Die Wahlkommission solle ein Treffen organisieren, bei dem dieses Schreiben dann verlesen würde. Da es um den Generalsekretär ging, müssten dabei auch Vertreter des ZK zugegen sein.
Die Wahlen für den Obersten Sowjet der RSFSR : Mit Enkelin Xenia am 24 . Februar 1985
Plötzlich redete Grischin im Alleingang mit Tschernenko. Schon das fiel aus dem Rahmen und hieß einiges. Um den Zufall beim Schopf zu packen und diese Chance auf keinen Fall zu vertun, inszenierte Grischin ein unwürdiges politisches Spektakel. Natürlich hatte er Hintermänner. Ein Teil der Führung war ihm sehr gewogen, vor allem diejenigen, die mich zurückdrängen wollten. Er zählte besonders auf Tschernenkos Umfeld, das eine ihm genehme Wahl brauchte, um sich nach Tschernenkos Tod an der Macht halten zu können. Zu diesem Zeitpunkt machte sich auch gerade ein bestimmter, wenn auch nicht großer Teil der Intelligenzija für Grischin stark.
Da er verstand, dass er mich nicht übergehen konnte, denn ich leitete faktisch das Politbüro und das Sekretariat, rief er mich an und sagte, im Auftrag Tschernenkos werde er das Treffen organisieren und den Text seiner Botschaft den Wählern vorlesen. Ich rief Tschernenko nicht an, erkundigte mich aber bei seinen Mitarbeitern, die Grischins Aussage bestätigten.
Am 22 . Februar nahm Grischin in seiner Eigenschaft als Erster Sekretär des Stadtkomitees Moskau das Treffen mit den Wählern in die Hand und verlas Tschernenkos Text. Zusammen mit Ligatschow, Gromyko, Simjanin und Kusnezow saß ich im Präsidium und litt sehr darunter, an dieser Farce teilnehmen zu müssen. Mit seiner typischen monotonen Intonation las und las er den Text und versuchte Pathos, Elan und Begeisterung hineinzulegen. Das Ganze hatte etwas Surrealistisches.
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