Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
bewunderte sein nie versiegendes Interesse am Leben. Ihn bewegten die Probleme seines eigenen Landes, aber auch die ferner Staaten.
Später freundete er sich auf Anhieb mit Raissa an. Er freute sich immer auf die Treffen mit ihr. Und ganz besonders interessierte ihn Raissas Beschäftigung mit der Philosophie. Ich habe den Eindruck, allein das Wort »Philosophie« hatte schon eine magische Wirkung auf ihn. Vater und Mutter freuten sich über die Geburt ihrer Enkelin Irina, die häufig den Sommer bei ihnen verbrachte. Sie liebte es, mit dem Großvater auf dem zweirädrigen Karren durch die Felder zu fahren, Heu zu mähen und in der Steppe zu übernachten.
Die Nachricht von der plötzlichen schweren Erkrankung meines Vaters erreichte mich 1976 in Moskau, wo ich mich anlässlich des 25 . Parteitags der KPDSU aufhielt. Sofort setzten sich Raissa und ich ins Flugzeug nach Stawropol, von wo es weiter nach Priwolnoje ging. Vater lag bewusstlos im Dorfkrankenhaus, wir konnten uns kein Wort mehr zum Abschied sagen. Seine Hand drückte meine, zu mehr war er nicht mehr fähig. Er starb an einer Gehirnblutung. Am Tag der Sowjetischen Armee, am 23 . Februar 1976 , begruben wir ihn. Die Erde von Priwolnoje, wo er geboren war, wo er von klein auf gepflügt, gesät, geerntet hatte und die er, ohne sein Leben zu schonen, verteidigt hatte, nahm ihn auf …
Sein ganzes Leben hat mein Vater für seine Angehörigen gesorgt, und er ging aus dem Leben, ohne jemand mit seinen Krankheiten zur Last zu fallen. Schade, dass er so kurz gelebt hat. 1995 wurde meine Mutter Maria Pantelejewna neben ihm begraben. Jedes Mal, wenn ich nach Priwolnoje komme, gehe ich als Erstes zu den Gräbern.
Ich habe noch ein Gespräch mit meiner Mutter in Erinnerung, lange vor ihrem Tod. Wir unterhielten uns auf der Bank vor ihrem Haus, ihrem Lieblingsplatz. Aus heiterem Himmel, von irgendwelchen Gefühlen bewegt, sagte sie: »Wenn ich sterbe, begrab mich neben Vater.«
Ich fragte: »Wie kommst du denn darauf?! Und was wird dann aus uns?«
»Es ist Zeit, Mischa«, sagte sie lächelnd. »Ich habe Vater schon so viele Jahre nicht gesehen …«
Das ist, wie schon gesagt, lange her. In den letzten zwei Jahren war sie oft krank. Wir fanden, sie brauche eine gute Behandlung, und überredeten sie, bei uns zu wohnen. Dann kam sie ins Kreml-Krankenhaus. Wir besuchten sie regelmäßig, alle zusammen und einzeln.
Das letzte Mal kam ich sie allein besuchen. Wir unterhielten uns lange. Erst spät am Abend verließ ich sie. Ich kam gutgelaunt nach Hause und sagte, Mutter fühle sich besser. Am nächsten Tag um 4 Uhr morgens starb sie. Die Ärzte fragten sie im letzten Moment: »Was sollen wir Michail Sergejewitsch sagen?«
Sie antwortete: »Er weiß alles.«
2 . Kapitel
Alma Mater
Vieles in meinem Leben hängt mit der Moskauer Universität zusammen. Ohne sie wäre mein Leben anders verlaufen, davon bin ich fest überzeugt. Ohne das Wissen, das ich dort bekommen habe, ohne die Lebenserfahrung in der Hauptstadt mit ihrem enormen kulturellen und geistigen Reichtum hätte ich kaum den Weg eingeschlagen, den ich dann gehen sollte.
1950 schloss ich die Schule mit einer Silbermedaille ab. Ich war neunzehn, also im Alter der Einberufung zur Armee, und musste mich entscheiden. Mir ist noch ein Gespräch mit meinem Vater in Erinnerung, das ich nach dem Schulabschluss mit ihm führte:
»Was willst du machen? Willst du studieren, oder wollen wir weiter zusammen arbeiten?«
»Ich würde gerne studieren …«
Ich brannte darauf, mich weiterzubilden. Das war auch bei vielen meiner Altersgenossen so. Von den Absolventen der zwei Klassen meiner Mittelschule besuchten praktisch alle später Hochschulen. Schließlich war es eine Zeit, wo unser Land wieder aufgebaut wurde und es überall an Ingenieuren, Agronomen, Ärzten und Lehrern mangelte. Ganze Klassen gingen geschlossen an die Hochschule. Ich wollte an die Moskauer Universität gehen.
Wie schon erwähnt, mochte ich Physik und Mathematik, Geschichte und Literatur. Ich bewarb mich an der Technischen Universität, beim Institut für Energie und beim Institut für Stahl. Das lag bei meiner mit der Technik verbundenen Lebenserfahrung nahe. Und doch entschied ich mich nach längerem Überlegen für die Juristische Fakultät der MGU und schickte die Unterlagen an die Zulassungskommission. Ich wartete. Tage verstrichen – keine Reaktion.
Also machte ich weiter mit dem Mähdrescher bei der Ernte mit. Als ich das Warten leid
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