Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
mussten wir nach Rostow, Stalingrad oder Schachty auf den Markt fahren. Kurz: Es reichte hinten und vorne nicht.
In diesem Zusammenhang ist mir in Erinnerung, immer war Mutter in der Nähe , immer unterstützte sie uns. Ich liebte sie. Und auch Vater liebte sie bis zu seinem Tod. Sie war eine wunderschöne Frau, sehr stark und zupackend. Vater war stolz auf sie, verzieh ihr ihre hektische Art und half bei allem. Das spornte meinen Bruder Alexander und mich an. Eins allerdings nahm ich ihr übel: wenn sie mich bei Vater verpetzte, dass ich mir zu viel herausgenommen hatte. Wenn ich mich hier an unsere Familie erinnere, von der nur ich noch am Leben bin, bedaure ich, nicht mehr für sie getan zu haben, besonders für meinen Bruder. Auf meinen Rat absolvierte er die Höhere Militärschule in Leningrad, war bei der Nachrichtenabteilung der Raketentruppen im Moskauer Umland tätig und zuletzt bei den Raumfahrttruppen. Er war ein sehr guter Mensch.
Familie Gorbatschow mit den Söhnen Michail und Alexander, 1950
Schwer, sehr schwer verdiente man sein Brot in jenen Jahren. 1946 gab es eine Missernte. Ausgerechnet in den Getreideanbaugebieten kam es zu einer Dürre. 1947 war ein besseres Jahr für unser Land. 65 , 9 Tonnen Getreide wurden geerntet. Aber im Stawropoler Land hatte es auch dieses Jahr eine Missernte gegeben. Irgendwie kamen wir über den Winter. Unsere ganze Hoffnung richtete sich auf die Ernte des Jahres 1948 . Und da kam es Anfang des Frühjahrs, im April, zu Staubstürmen, dem Begleitphänomen einer Dürre. »Schon wieder eine Katastrophe«, sagte Vater, »schon das dritte Jahr in Folge nach dem Krieg.« Doch ein paar Tage später kam ein warmer, warmer Regen. Es regnete einen Tag, zwei Tage, drei Tage. Und das Getreide begann zu wachsen.
Die Ernte des Jahres 1948 war die erste ordentliche Ernte im Stawropoler Land. In unserer Kolchose ernteten wir 22 Dezitonnen pro Hektar. Für die damalige Zeit – besonders nach den jahrelangen Missernten – ein einzigartiges Ergebnis. Seit 1947 war ein Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der UDSSR in Kraft: Wer 10 000 Dezitonnen Getreide mit dem Mähdrescher schafft, erhält die Auszeichnung »Held der Sozialistischen Arbeit«, wer 8000 schafft, bekommt den Leninorden. Vater und ich hatten 8888 Dezitonnen geschafft. Vater bekam den Leninorden, ich den Orden des Roten Banners. Ich war erst siebzehn, und dieser Orden ist mir bis heute der teuerste. Die Nachricht von der Auszeichnung kam im Herbst. Es gab eine feierliche Versammlung in der Schule. Ich erlebte so etwas zum ersten Mal, und obwohl ich sehr verlegen war, war ich natürlich trotzdem froh. Damals musste ich meine erste öffentliche Rede halten.
Das Jahr 1948 war für meine Familie zwar kein Glücksjahr, aber ein erfolgreiches Jahr.
Am aufreibendsten ist das Leben bekanntlich, wenn man gegen die Unsicherheit kämpfen muss, nicht das Nötigste zum Leben zu haben, einem nur Hindernisse im Weg liegen und man bei null anfangen muss. Ich habe das erlebt. Aber es tut mir überhaupt nicht leid, dass ich einen beträchtlichen Teil meiner jugendlichen Energie auf die Überwindung »ungünstiger Umstände« verwenden musste. Die Schwierigkeiten der ersten Jahre meines selbständigen Lebens und der mühselige Alltag haben mich abgehärtet. Schwierigkeiten dieser Art prüfen den Menschen auf seine Festigkeit. Denn das wahre Wesen des Menschen offenbart sich nicht an den Tagen der Siege und Erfolge, sondern an den Tagen der Prüfungen.
In jener Zeit gab es alles: Schweres, Freude, Kummer und Hoffnung. Das ewige Auf und Ab des Lebens. Wer sich heute unsere Geschichte anguckt, muss jede Periode, jedes Faktum in einem weiteren Kontext sehen, sonst versteht er nichts – weder die damaligen Ereignisse noch die damaligen Menschen.
Wenn ich auf meine Vergangenheit zurückblicke, wird mir immer klarer, wie sehr mich mein Vater und mein Großvater Pantelej mit ihrem Pflichtgefühl, ihrem Leben, ihren Taten, ihrer Einstellung zur Arbeit, zur Familie und zu ihrem Land geprägt haben und mir Vorbild sind. In meinem Vater, einem einfachen Menschen aus dem Dorf, steckte von Natur aus so viel Intelligenz und Neugier, Verstand und Menschlichkeit. Das unterschied ihn merklich von seinen Dorfgenossen. Die Menschen begegneten ihm mit Respekt und Vertrauen. In meiner Jugend achtete ich meinen Vater nicht nur als Sohn, sondern hing auch sehr an ihm. Je erwachsener ich wurde, desto begeisterter war ich von ihm. Ich
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