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Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)

Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)

Titel: Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michail Gorbatschow
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Sozialismus nach seiner Auffassung. Er war ein kultivierter Mann. Die Beziehung zu seiner Familie, insbesondere zu seiner Frau Sinaida Iwanowna, machte großen Eindruck auf mich. Sie ist die Tochter eines Offiziers, der dem Großen Terror zum Opfer gefallen war. Für einen anderen wäre das unter Umständen ein Grund für den Abbruch der Beziehung gewesen. Die beiden lernten sich als Studenten kennen. Aber er ließ sie nicht im Stich, im Gegenteil, er stützte sie in dieser schweren Zeit. Ich glaube, er war zum ersten und einzigen Mal richtig verliebt. Das sagt viel über ihn aus.
    Ligatschow war ein aufgeschlossener Mensch, sagte stets frei seine Meinung. Aber da er gewohnt war, Macht auszuüben, konnte er äußerst herrschsüchtig und autoritär sein. Womöglich lag das daran, dass er vor der Aufnahme ins Politbüro 18  Jahre lang als Erster Sekretär des Parteikomitees von Tomsk gearbeitet hatte und davor im Apparat des Zentralkomitees der KPDSU . Allgemein zählte er zu ebenjenen »störrischen Eseln«, mit denen man Geduld haben muss. Nicht selten handelte er hinter meinem Rücken und gegen meine Einstellung, etwa bei der Wahl des Sekretärs der russischen KP oder bei anderen Kaderfragen. Ihm kam es so vor, als schätzte ich ihn nicht genug, aber da irrte er sich. Ich hatte und habe bis heute große Achtung vor ihm.
    Jelzins Brief enthielt einige scharfe, gegen das Politbüro gerichtete Worte. Er bat mich um einen Termin nach meiner Rückkehr aus dem Urlaub und wollte alles besprechen. Ich sagte ihm zu, allerdings für einen späteren Zeitpunkt, da ich im Moment mit der Vorbereitung des 70 . Jahrestags der Revolution und meiner Rede auf der feierlichen Sitzung beschäftigt sei.
    Jelzin konnte nicht warten und veranstaltete am 21 . Oktober auf der Plenartagung des ZK , auf der der Vortrag zum 70 . Jahrestag der Revolution behandelt wurde, einen Skandal. Das Zentralkomitee war mit meiner Rede einverstanden und äußerte lediglich kleine Änderungswünsche. Ligatschow, der den Vorsitz hatte, wollte schon die Sitzung schließen. Es fehlte nur noch die Abstimmung. In diesem Moment sah ich, dass Jelzin die Hand gehoben hatte, und machte Ligatschow darauf aufmerksam. Der Vorsitzende erteilte ihm das Wort. Jelzin sagte, dass er sich im Politbüro an der Diskussion über die Rede beteiligt habe, dass seine Kommentare berücksichtigt worden seien und er die Rede unterstütze. Aber jetzt habe er nicht deswegen das Wort ergriffen, sondern wolle etwas zur Leitung der Partei sagen. Sie entwickle unter der Hand einen neuen Personenkult. Damit zielte er auf mich. Sein Auftritt war sehr merkwürdig. Er erklärte, er könne nicht mit dem Politbüro zusammenarbeiten, er bekäme keine Unterstützung von ihm, insbesondere von Ligatschow. In diesem Zusammenhang bat er, ihn von den Verpflichtungen als Kandidat für das Politbüro und als Erster Sekretär des Stadtkomitees Moskau zu befreien.
    Jelzins provokanter Ton löste eine heftige Reaktion aus. Allerdings nicht die, mit der er gerechnet hatte. Es brach eine Diskussion los, die man nicht mehr stoppen konnte. Meist kam es zu Einschätzungen wie »gekränkte Eigenliebe« und »überzogene Ansprüche«. 24 ZK -Mitglieder meldeten sich zu Wort; Forderungen, Jelzin aus dem ZK auszuschließen, wurden laut.
    Ich beobachtete Jelzin vom Präsidium aus und versuchte zu verstehen, was in ihm vorging. In seinem Gesicht stand eine merkwürdige Mischung: Verbitterung, Unsicherheit, Bedauern, etwas, das für eine unausgeglichene Natur sprach. Die Teilnehmer an der Diskussion, darunter auch solche, die ihm gestern noch geschmeichelt hatten, schlugen kräftig und verletzend auf ihn ein, das hat bei uns ja Tradition. Die Lage spitzte sich zu. Ich griff ein: »Lassen Sie uns Jelzin selbst hören. Was hat er zu den Aussagen der Mitglieder des ZK zu sagen?«
    Es waren Rufe zu hören: »Das ist nicht nötig. Es ist auch so alles klar.«
    Aber ich bestand darauf, Jelzin reden zu lassen, und unterstützte das mit dem Argument, wenn wir eine Demokratisierung der Partei wollten, müssten wir beim ZK anfangen.
    Jelzin kam auf die Tribüne; er redete etwas unzusammenhängend, gab aber zu, dass er unrecht hatte. Ich warf ihm einen »Rettungsring« zu und schlug ihm vor, sein Rücktrittsgesuch zurückzunehmen. Aber er war schrecklich nervös und erklärte: »Nein, ich bleibe dabei.«
    Das Plenum beauftragte das Politbüro, zusammen mit dem Stadtkomitee Moskau die Frage des Ersten Sekretärs zu regeln.
    Als

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