Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
Stalin geschrieben hat. Als die Zeit so weit war, schrieb sie auch eins über mich. Sie stellte mir einmal die Frage: »Viele werfen Ihnen Unentschiedenheit und zu langes Zögern vor. Ich bin eher der Meinung, Sie haben mit der Perestrojka ein Tempo angeschlagen, das über die Kräfte der sowjetischen Gesellschaft ging. Ich kenne diese Gesellschaft gut. Was meinen Sie dazu?« Ich antwortete, in dem einen Fall seien wir zu sehr vorgeprescht, in einem anderen hätten wir uns verspätet. »Das ist mir klar«, sagte sie. »Ich will wissen, ob meine Einschätzung im Großen und Ganzen richtig ist.« Ich musste ihr recht geben.
Ja, auch wenn man von der Militarisierung und den Zweigen der Schwerindustrie absieht, war die sowjetische Gesellschaft ein äußerst schwieriges Reformunterfangen. Lilly Marcou hat recht, und deshalb akzeptiere ich auch die Vorwürfe nicht, ich sei unentschieden gewesen. Um die Perestrojka durchzubringen, musste ich mich mal ins linke, mal ins rechte Ruder legen. Das hing ganz von den Umständen ab. Mir scheint, im Anfangsstadium hätte man die ganze damals ungeteilte Macht der KPDSU , unsere ganze Autorität einsetzen können und müssen und alles, was heute »Industriepolitik« genannt wird, forcieren sollen. Der Prozess der Perestrojka verlief zu widersprüchlich, die Ereignisse hätten sich so oder so oder nach einem dritten Drehbuch entwickeln können.
Unsere Hoffnung auf Veränderungen auf dem Weg der Evolution und meine Vorliebe für dieses Vorgehen zeugen davon, wie sehr wir die Schwierigkeit dieser Gesellschaft durchschauten und ein Chaos bei der Reformierung vermeiden wollten. Es war uns zuvörderst daran gelegen, alles ohne Blutvergießen zu erreichen und so weit zu kommen, wie die Kräfte reichten, bis zu dem Punkt, an dem es kein Zurück gab. Denn bisher hatten die historischen Wendepunkte in unserem Land immer zu Blutvergießen geführt. Dies zu verhindern, war für mich und meine Gleichgesinnten das oberste Gesetz.
Außerdem habe ich in den meisten Fällen so und nicht anders gehandelt, weil ich ein unbedingter Anhänger der Demokratie bin. Alle meine Kritiker aus dem konservativen Lager und die »tollen« Linken vergaßen Freiheit und Demokratie, wenn sie an die Macht kommen wollten, und schlugen zu. Leider sind in unserem Land auch jetzt, in der heutigen Zeit, viele bereit, Hitzköpfe zu unterstützen und alles übers Knie zu brechen. Es ist ja kein Zufall, dass Stalin, einer der blutrünstigsten Führer unserer Geschichte, von vielen als Held angesehen und sein Porträt bis heute bei Demonstrationen hochgehalten wird, ja man hat sogar versucht, ihn mit Russland gleichzusetzen.
Jelzin: ein schwieriger Fall
In diese Monate des Jahres 1987 fielen auch Probleme mit Jelzin. Sie waren schon vorher latent da gewesen und hatten sich nun zugespitzt. Grund war sein Arbeitsstil, darunter auch seine Art, Kaderprobleme zu lösen.
Als Erster Sekretär des KP -Stadtkomitees Moskau hatte Jelzin kein einfaches Arbeitsfeld. In Moskau konzentrierte sich nicht nur die Moskauer Bürokratie, hinzu kam die gesamte Bürokratie der Republiken und der Union. Um an diesem Ort die Perestrojka durchzusetzen, brauchte es politische Reife und Durchsetzungskraft. Ich hatte gehofft, Jelzin sei dem gewachsen. Am Anfang stürzte er sich voll in die Arbeit in der Hauptstadt. In der Regel war ich auf seiner Seite, auch dann, als negative Informationen über sein Verhalten eintrafen.
Zwei Dinge charakterisierten seine Arbeit: Trotz des demokratischen Wesens der Perestrojka griff er zu administrativen Methoden, und er neigte zu Populismus. Letzteres war sein und unser Unglück. Aber gerade wegen dieses Populismus waren die Moskauer bereit, ihn auf Händen zu tragen. Außerdem war er unzufrieden, dass er, obwohl Leiter der größten Parteiorganisation der KPDSU , kein Politbüromitglied war. Das versetzte seinem Ehrgeiz einen Stoß. Doch gerade sein Verhalten in Moskau war ein Hindernis dafür. Ihm mangelte es eindeutig an Ausdauer.
Schon im Sommer, als ich auf der Krim Urlaub machte, hatte Jelzin mir einen Brief geschrieben, in dem er sich über das Sekretariat des ZK und Ligatschow persönlich beschwerte. Ligatschow behandle ihn wie einen kleinen Jungen. Dazu muss ich allerdings sagen, dass hier zweifellos zwei Dickköpfe aufeinandergeprallt waren. Ligatschow war auch nicht gerade ein umgänglicher Typ. Er verfügte über viele Eigenschaften eines guten Politikers und war ein überzeugter Anhänger des
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