Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
folgenden Jahren bestimmten. Davon später, zuvor will ich über den 70 . Jahrestag der Oktoberrevolution sprechen, denn er ging vor dem Hintergrund einer breiten Diskussion im Lande vonstatten.
Bei der feierlichen Sitzung im Kreml am 2 . November 1987 hielt ich den Vortrag »Der Oktober und die Perestrojka: Die Revolution geht weiter«. Er wurde mit Interesse aufgenommen. Aber seien wir ehrlich: Er trug den Stempel der damaligen Zeit. Wir selbst hatten noch vieles zu überdenken und psychologische Barrieren zu überwinden. Es blieben nicht wenige »weiße Flecken«, die der Aufarbeitung bedurften. Es war ein ausgewogener Vortrag ohne Extrempositionen. Doch wie sich herausstellte, enttäuschte er die Extremisten beider Seiten. Die einen nahmen die kritische Analyse als Verunglimpfung der Vergangenheit auf, den anderen ging der Bruch mit der Vergangenheit nicht weit genug.
In gewisser Weise hatte ich mit dieser Reaktion gerechnet, denn ich hatte eine Reihe von Fragen bewusst offengelassen. Damit wollte ich mich von den früheren Zeiten absetzen, in denen der Vortrag des Generalsekretärs eine Anleitung zum Handeln war. Mir lag daran, die Vergangenheit nicht ad acta zu legen, sondern ich wollte einen Anstoß dazu geben, weiter Fragen an sie zu stellen. Erstmalig fällte der Generalsekretär wohlweislich keine endgültigen »Urteile«, sondern ich sah meine Hauptaufgabe darin, die Vergangenheit für Historiker, Theoretiker, Politiker und die ganze Gesellschaft zu enttabuisieren. Es galt, diesen gewaltigen und schwierigen Weg, den wir hinter uns hatten, erst einmal zu erforschen. Die Presse hatte schon begonnen, Material zu historischen Themen zu veröffentlichen, jetzt kam es zu einem regelrechten Boom solcher Literatur.
Aus Anlass der Revolutionsfeierlichkeiten fand am 4 . und 5 . November auch ein internationales Treffen im Kreml statt. Nicht nur kommunistische Gäste, sondern praktisch alle ausländischen Gäste waren gekommen. Eine solch »pluralistische« Versammlung wäre vor der Perestrojka vollkommen undenkbar gewesen. Das Treffen wurde zu einer Gelegenheit für eine interessante Diskussion, für den Austausch durchaus differierender Ansichten und Meinungen über die Lage der Welt und die Ereignisse in der UDSSR . In meiner Ansprache bei diesem Treffen formulierte ich zum ersten Mal die ketzerische Vorstellung von den vielfachen Möglichkeiten geschichtlicher Entwicklung und relativierte den Widerspruch zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Und dass ich dann auch noch erklärte, es sei Zeit, das Monopol auf die Wahrheit zu verabschieden, klang wie ein Aufruf zur Dissidenz.
Interessant war der Auftritt von Jegor Ligatschow bei der Diskussion des Vortrags über den 70 . Jahrestag der Oktoberrevolution im Politbüro. Er war der Meinung, Bucharin, Rykow und Tomskij hätten einen verlangsamten Ablauf der Industrialisierung vorgeschlagen und das hätte die Entwicklung zum Sozialismus behindert. Jelzin seinerseits stellte die Frage, ob es nicht verfrüht sei, die Rehabilitation Bucharins vorzuschlagen.
Mit Fidel Castro, 7 . November 1987
Der Rote Platz am Tag der Feierlichkeiten zum 70 . Jahrestag der Oktoberrevolution; 7 . November 1987
Wenn ich in Gedanken in diese Zeit zurückkehre, ging es immer darum, dass wir zu spät kamen. Termine, Termine, das war immer wieder der wunde Punkt. Auch die vor uns liegenden Diskussionen um die Perestrojka drehten sich ständig darum. Im Grunde genommen steckte dahinter die Alternative von Revolution oder Evolution. Ihrem Gehalt nach war die Perestrojka natürlich eine Revolution. Aber sie verlief in der Form eines evolutionären Reformprozesses. (»Das wird fünfundzwanzig bis dreißig Jahre dauern!«, hatten andere und auch ich gesagt.)
Wenn man von der »Unentschlossenheit« Gorbatschows, seiner »Zögerlichkeit« spricht, erwidere ich: Hier geht es um das Tempo der Umgestaltungen, um das Verständnis der Korrelation objektiver und subjektiver Faktoren, das heißt um eine weit kompliziertere Frage als um die Frage Gorbatschow … Und wenn man mir besonders zusetzt mit Fragen und Vorwürfen, füge ich hinzu: »Wissen Sie, wenn Gorbatschow der Schwächling gewesen wäre, als den ihn manche darstellen, dann hätte es überhaupt keinerlei Veränderungen gegeben.« Auch heute noch stehe ich zu meiner Position.
Ich erinnere mich an ein interessantes Gespräch mit der Historikerin Lilly Marcou, einer Französin, die viele Bücher über Russland, die Sowjetunion und
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