Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
wäre nichts geschehen, schickte mir Jelzin am 3 . November einen kurzen Brief, in dem er bat, ihm die Möglichkeit zu geben, weiterzuarbeiten. Übrigens nahm er auch am 7 . November mit uns zusammen die Parade aus Anlass der Revolutionsfeierlichkeiten ab, stand mit anderen Mitgliedern der Leitung am Lenin-Mausoleum und tat, als sei nichts geschehen.
Am 9 . November erreichte mich die Meldung, man habe Jelzin blutüberströmt im Moskauer Stadtkomitee gefunden. Im Moment seien Tschasow und andere Ärzte bei ihm. Jelzin hatte mit der Büroschere einen Selbstmordversuch unternommen. Die Ärzte befanden, es bestehe keine Lebensgefahr, die Verletzung war oberflächlich. Aber er kam ins Krankenhaus.
Ich musste dringend eine Politbürositzung einberufen. Wir verabredeten, an den Beschlüssen der Plenartagung festzuhalten. Nach einer gewissen Zeit rief ich Jelzin an, sagte, ich wisse, was vorgefallen sei. Das Plenum des Moskauer Stadtkomitees finde statt, wenn er wieder gesund sei. Das war am 12 . November. Jelzin bat mich in diesen Tagen, ihn in Pension zu schicken. Schließlich kam es zu dem Beschluss, ihn im ZK zu belassen. Er wurde zum Ersten Vertreter des Vorsitzenden des Staatlichen Komitees für Bauwesen ernannt, ein Ministerposten.
Später warfen mir viele vor, ich hätte die Sache nicht konsequent zu Ende geführt: »Man hätte ihn aus dem ZK ausschließen und in die Provinz schicken sollen, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen. Oder als Botschafter in irgendeine Bananenrepublik. Und damit wäre die Sache erledigt gewesen.« Häufig hielt man mir vor: »Geben Sie es zu, es war doch Ihre eigene Schuld!«
Ähnliche Gedanken sind mir nie in den Sinn gekommen. Das war nicht meine Art, mit Menschen umzugehen, und es hätte dem Geist widersprochen, auf den ich die Partei verpflichten wollte. Ich hegte keinerlei Abneigung gegen ihn, geschweige denn Rachegefühle. Selbst als er anfing, die niederträchtigsten Anschuldigungen gegen mich zu erheben, ließ ich mich nicht auf unwürdiges Gezänk ein.
Und was hatte ich davon? Als eine Art Nachwort zu dieser Episode möchte ich ein Gespräch mit einem Mann zitieren, der Jelzin nahegestanden hatte, mit Poltoranin. Seinen Aussagen nach wollte Jelzin damals mit seinem Auftritt im Zentralkomitee ganz bewusst einen Skandal provozieren und hatte damit gerechnet, dass sich viele an seine Seite stellen würden. Doch da hatte er sich getäuscht.
Nachdem Jelzin in die höchste Führung des Staatsapparats der UDSSR gelangt war, konnte er sich nie richtig einbringen. In dem Maße, wie die Schwierigkeiten der Perestrojka und die verschiedenen Formen der Unzufriedenheit mit den Ergebnissen zunahmen, waren seine polarisierenden, populistischen Fähigkeiten jedoch auf einmal gefragt. Es gelang ihm, auf dieser Welle zu reiten und so in die Politik zurückzukehren. Der Rest ist bekannt.
Das Anti-Perestrojka-Manifest
Nach dem 70 . Jahrestag der Revolution wurde überall in der Gesellschaft über unsere Vergangenheit und die aktuellen Probleme diskutiert. Die Werke von Philosophen, Schriftstellern und Malern, deren Namen wir früher nicht zu erwähnen gewagt hätten, wurden aus den Archiven und Giftschränken der Bibliotheken geholt. Historiker, Wirtschaftswissenschaftler, Philosophen, Soziologen und Literaturwissenschaftler waren bemüht, ihren Forschungsbereich von den durch den Stalinismus hervorgerufenen Verzerrungen zu befreien und ihre Geschichte zu durchleuchten, um die Wahrheit zu finden. Es brodelte im wahrsten Sinn des Wortes in der Gesellschaft. Die Emotionen kochten hoch. Und wir mussten sorgfältig darauf achten, dass »der Deckel auf dem Kessel der Perestrojka« nicht platzte.
Im Zentrum der Diskussion standen das Wesen des Sozialismus und die sozialistischen Werte. »Wenn wir das fortschrittlichste System haben, warum hinken wir dann im Lebensstandard und in der Produktivität chronisch hinter vielen anderen Ländern her?« »Wenn wir das ›demokratischste Land der Welt‹ sind, warum haben die Menschen bei uns keine geistige Freiheit, warum haben sie nicht die Möglichkeit, auf die Politik Einfluss zu nehmen?« Diese Fragen wurden ganz offen gestellt, die Menschen hatten nicht wie früher Angst, deshalb »antisowjetischer Agitation« angeklagt zu werden.
Immer häufiger kam es vor Beginn und während der Sitzungen des Politbüros und des Sekretariats des ZK zu Streit über die radikalsten Veröffentlichungen, Radio- und Fernsehsendungen. Ligatschow war der Meinung,
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