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Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)

Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)

Titel: Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michail Gorbatschow
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wir hätten die Kontrolle über die Presse verloren. Dem schlossen sich Solomenzew, Tschebrikow, Jasow und schließlich auch Ryschkow an.
    Ich musste ein ernstes Wort reden. Thema der nächsten Plenartagung im Februar 1988 war die Schulreform. Das Referat sollte Ligatschow halten. Das Thema war nicht besonders gut für diesen Moment gewählt. Aber es war zu spät, es zu ändern. Ich beschloss, selbst auf der Tagung zu Fragen der Ideologie Stellung zu nehmen. Wir brauchten eine Ideologie der Erneuerung. Glasnost hatte viele Missstände offengelegt, kaum jemand bestritt die Notwendigkeit der Perestrojka. Aber was ihre Ziele betraf, so gab es darum einen erbitterten Kampf. Hinter scheinbarer Einigkeit standen diametral gegensätzliche Vorstellungen. Die Spitze des Partei- und Staatsapparats fand, man müsse das bestehende System einfach »reparieren«, dürfe es aber um Himmels willen nicht durch ein anderes ersetzen. Als ich dann versuchte zu klären, was unter dieser Reparatur zu verstehen sei, zeigte sich, dass es nur um eine kosmetische Auffrischung ging, vergleichbar mit dem Neuanstrich, in dem man vor hohen Feiertagen unsere Fassaden in den zentralen Straßen erstrahlen ließ. Aber was hinter diesen Fassaden war …
    Extremer Konservatismus nährt bekanntlich blinden Radikalismus. Die Dissidenten von gestern, ein Teil der schöpferischen Intelligenzija, all jene, die fest entschlossen waren, sich in die große Politik einzumischen, schickten sich Hals über Kopf an, »die Grenzen des Erlaubten« zu erweitern. Indem sie sich von den sozialistischen Werten abwandten, also von den Werten, die ihnen gestern noch lieb und teuer gewesen waren, forderten sie eine sofortige Demontage des gesamten Systems, ohne Rücksicht auf mögliche Folgen: Gewalt und Unruhen. Dabei blieb völlig unklar, was für eine gesellschaftlich-politische Ordnung ihnen vorschwebte.
    In meiner Rede auf der Plenartagung hielt ich es für dringend erforderlich, vor allzu vereinfachenden, primitiven Bewertungen sowohl unserer Vergangenheit als auch der in 70  Jahren entstandenen Gesellschaft zu warnen. Man durfte unsere Landesgeschichte nicht nur als eine Kette blutiger Verbrechen ansehen. Auf keinen Fall durften wir das Gedächtnis des Volkes, dessen aufopferungsvolle Anstrengungen, dessen Opfer für eine bessere Zukunft in den Dreck ziehen. Gerade die Perestrojka sei, sagte ich, das Ergebnis der vergangenen Entwicklung, eine Phase der Negation, in der wir uns von allem zu befreien versuchten, was unsere Bewegung aufhalte. Dank der Reformen befreie sich der Sozialismus von Deformationen, kehre zu seinen Quellen zurück und beschreite neue historische Wege.
    Wenn ich diese Rede lese, fallen mir viele Widersprüche auf. Damals waren wir noch davon überzeugt, das Unglück unseres Landes hinge nicht mit irgendwelchen inneren Gesetzmäßigkeiten des Systems zusammen und wir könnten die Probleme in der Wirtschaft, Politik und geistigen Sphäre lösen, ohne den Rahmen des Systems zu verlassen. Wir waren uns damals noch nicht bewusst, dass die Krise unseres Landes Systemcharakter hatte.
    Auch nach der Plenartagung vom Februar kam es zu keiner Änderung der Einstellung. Die Polarisierung schritt fort. Millionen von Angehörigen der Nomenklatur trieb weniger die Sorge um das Volk um als die Angst vor dem Verlust der Macht.
    Wenig später kam es zu einem Ereignis, das in die Geschichte der Perestrojka eingehen sollte. Am 13 . März 1988 erschien in der Zeitung
Sowjetskaja Rossija
der Artikel »Ich kann meine Prinzipien nicht aufgeben«. Er stammte von Nina Andrejewa, einer Leningrader Dozentin. Geist, Stil und Terminologie dieses Artikels waren offen gegen die Perestrojka gerichtet. Stattdessen wurden Stalin und alles, was mit ihm zusammenhing, verherrlicht. Da die
Sowjetskaja Rossija
eine Zeitung des ZK der KPDSU war, wirkte der Artikel wie eine offizielle Kampfansage gegen die Linie, die ich formuliert hatte und die gerade auf der Februar-Plenartagung gebilligt worden war.
    Die Reaktion der Sekretäre der Gebietskomitees und sogar einiger Politbüromitglieder entmutigte mich. Bei einem ersten Gespräch mit meinen Kollegen über den Artikel nahm ich verwundert zur Kenntnis, dass einige den Artikel guthießen. Folgendes Gespräch fand am 23 . März im Präsidiumszimmer des Kreml während einer Pause der Versammlung von Kolchosarbeitern statt, an der die Führung des Landes teilnahm. Tschernjajew schildert das Gespräch in seinen Erinnerungen und stützt

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