Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)

Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)

Titel: Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michail Gorbatschow
Vom Netzwerk:
Bürgerkrieg geht bei Lenin einher mit dem Bedürfnis nach einem »neuen Verständnis des Sozialismus«. Die Grundlage dafür bildet die Abkehr vom Glauben an die Allmacht gewaltsamer Methoden und ein Plädoyer für Reformen: die Verwendung traditioneller, dem Volk verständlicher Formen, die schrittweise erneuert und mit neuem Inhalt gefüllt werden sollten.
    Seine Krankheit hinderte Lenin an der Umsetzung dieser tiefgehenden Umbewertung, aufgrund derer eine vollkommen andere Entwicklungskonzeption hätte entstehen können als diejenige, die Stalin dem Land aufgezwungen hat, indem er in jeder erdenklichen Weise die Autorität Lenins und seiner Aussagen, seine Bewertungen und Urteile zur Zeit des erbitterten Kampfes während des Bürgerkriegs benutzte. Die »Neue Ökonomische Politik« ( NEP ) [35] , die von der Gesellschaft akzeptiert worden war und die Voraussetzung für den Wiederaufbau des Landes geschaffen hatte, wurde von der Parteibürokratie, die nach Lenin an die Macht kam, aufgegeben. Die Anfänge von Markt, von freiem Unternehmertum, von ideologischem und politischem Pluralismus wurden ausgemerzt. Es wurde ein Staats-, im Grunde ein »Kasernen«-Sozialismus errichtet.
    Anstelle von NEP und Steuern in Form von Naturalien schlug die Stalin’sche Führung einen harten Kurs in Bezug auf die Bauern ein – mit gewaltsamer Beschlagnahmung der Produktion und erzwungener Kollektivierung. Ein Feudalmechanismus wurde begründet, der sich über Jahrzehnte hielt. Kommando-Methoden, Unterdrückung von Dissens und Repressionen, die man zunächst mit der kapitalistischen Umgebung rechtfertigte, wurden zu integralen Bestandteilen des Systems. Im Land bildete sich ein totalitäres Regime heraus, das sich auf Staatseigentum, eine Monopol-Ideologie und die Macht einer einzigen Partei stützte.
    Meine Kollegen, die Ende April 1987 an der Sitzung teilnahmen, bei der im kleinen Kreis die Vorbereitung für den Vortrag zum 70 . Jahrestag der Oktoberrevolution diskutiert wurde, erinnerten sich – warum auch immer – am besten an meine Worte: »Ich glaube, das Schicksal der jetzigen Führung ist es, zu sterben oder die Perestrojka in Schwung zu bringen.« Vermutlich hatte es damit zu tun, dass die Schwierigkeiten in der Wirtschaft weiterhin zunahmen. Dazu kamen die mit dem Übergang der Industrie zu wirtschaftlicher Rechnungsführung, Selbstfinanzierung und Selbstverwaltung verbundenen Turbulenzen. Manch einer sah die Probleme als Möglichkeit, die Perestrojka-Prozesse in Zweifel zu ziehen. Es gab Stimmen, die sagten: »Da habt ihr eure Demokratie!« Bei Diskussionen und Gesprächen war es zuweilen schwierig, zwischen echter Besorgnis und Schadenfreude zu unterscheiden.
    Das Schlimme war, dass viele Strukturen von Partei und Verwaltung nicht bereit waren für die Arbeit in einer Atmosphäre von Demokratisierung, Glasnost und Übergang zu neuen Formen der Wirtschaft. Bei Treffen und Begegnungen war immer wieder ein und dieselbe Bitte zu hören: »Sagen Sie, was wir machen sollen, geben Sie Anweisungen.« Schon damals erkannten wir darin bedrohliche Symptome für eine Krise der Partei – einer Partei, der im Allgemeinen eine andere Rolle zugedacht war. Mich erstaunte, dass in den drei Jahren der Perestrojka wesentliche Erneuerungen bei den Parteikadern stattgefunden hatten und dennoch die neu Hinzugekommenen, belastet durch ihre Trägheit und die sowjetische ideologische »Schule«, mit wenigen Ausnahmen nach denselben Methoden handelten wie ihre Vorgänger.
    Die Politbürositzung vom 28 . September drehte sich ausschließlich um Perestrojka-Prozesse. Ja, wir befanden uns in einer kritischen Phase, und die Perestrojka kam nur langsam voran.
    Trotz der weiter zunehmenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten konnten doch auch andere Dinge in Angriff genommen werden. Am Vorabend des 70 . Jahrestages der Revolution wurde eine Kommission eingerichtet, die die stalinistischen Verfolgungen aufarbeitete. Zum Vorsitzenden wurde Solomenzew bestimmt, die Mitglieder waren Jakowlew, Tschebrikow, Lukjanow, Rasumowskij, Boldin und Georgij Smirnow (der Direktor des Instituts für Marxismus-Leninismus). Damit kam es zu einer Wiederaufnahme des in der Breschnew-Zeit unterbrochenen Prozesses der Rehabilitierung unschuldig verurteilter Menschen, mit dem Gerechtigkeit und historische Wahrheit wiederhergestellt werden sollten.
    Ende 1987 und im Verlauf des Jahres 1988 kam es zu den Ereignissen, die den Charakter und die Richtung der Prozesse in den

Weitere Kostenlose Bücher