Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
lachte aus vollem Hals, aber mir war absolut nicht danach. Mit Mühe schafften wir es zur U-Bahn.
Als Student an der Moskauer Universität, 1951
Im vierten Studienjahr zogen wir in das neue Gebäude der MGU auf den Leninbergen (oder: Sperlingsbergen) und wohnten auch in dem Studentenheim dort, zu zweit in einer Wohnraumzelle. Das führte dazu, dass wir ein oder auch zwei Wochen lang nicht in die Stadt gingen, sondern in unserem »Adelsnest« blieben, wie wir den neuen Universitätskomplex nannten. In der Stromynka-Straße hausten im ersten Studienjahr zwanzig Studenten in einem Zimmer, im zweiten Studienjahr waren es elf, im dritten sechs.
Wir hatten hier auch eine Mensa mit einem Buffet, wo wir für ein paar Kopeken ein Glas Tee bekamen und dazu so viel Brot, wie wir wollten. Teller davon standen auf dem Tisch. Noch besser schmeckte es mit Senf oder Salz. Es gab auch einen Friseur und eine Wäscherei, obwohl ich oft von Hand waschen musste, weil ich kein Geld hatte. Auch eine eigene Poliklinik war vorhanden. Das war neu für mich, denn in meinem Dorf hatte es nur eine Stelle mit einem Arztgehilfen gegeben. Auch eine Bibliothek mit großen Leseräumen und einen Club mit allen möglichen Kunstzirkeln und Sportabteilungen hatten wir. Das war eine ganz besondere Welt, eine Studenten-Bruderschaft mit ihren eigenen ungeschriebenen Gesetzen und Regeln.
Wir lebten ärmlich. Das Stipendium an den geisteswissenschaftlichen Fakultäten betrug ganze 22 Rubel. Zwar bekam ich eine Zeitlang für meine Leistungen im Studium und in der gesellschaftlichen Arbeit ein persönliches Stipendium in Höhe von 58 Rubeln – es hieß Kalinin-Stipendium. Am Monatsende reichte es aber oft nur für trockenes Brot, oder wir lebten von dicken Bohnen, die wir im Laden kauften. Und trotzdem gaben wir den letzten Rubel nicht für etwas zu essen aus, sondern fürs Kino.
Von Anfang an war ich vom Universitätsstudium begeistert. Es nahm meine ganze Zeit in Anspruch, ich studierte mit großem Interesse. Meine Moskauer Freunde zogen mich manchmal auf: Vieles, was für mich neu war, kannten sie schon von der Schulbank. Aber es machte mir nichts aus, dass ich vieles erst lernen musste. Die Moskauer hatten oft Angst, durchblicken zu lassen, dass sie etwas nicht wussten. Im dritten Studienjahr konnte ich es bei studentischen Diskussionen mit den begabtesten Studenten meines Studienjahres aufnehmen.
Die Vorlesungen hielten hervorragende Professoren, in der Regel Verfasser von Lehrbüchern zur Jurisprudenz und anderem. Den stärksten Eindruck hinterließ bei mir der Professor, der die Vorlesungen zum Strafrecht hielt. Er war ein wunderbarer Referent. Vom ersten Studienjahr an liebten wir ihn. Manchmal besuchten wir sogar heimlich seine statt anderer Vorlesungen. Nur ein Problem hatte unser Professor: Seine Stimme machte nicht mit, sie trocknete während der Vorlesung aus, eine Berufskrankheit. Deshalb stand auf seinem Tisch immer ein bauchiger Krug mit einem geschliffenen Glas, das typische Geschirr jener Jahre auf Versammlungen, bei Sitzungen, Vorlesungen etc. Nach zwei Stunden war der Krug zur Hälfte geleert. Aber einmal kam es zu einem Vorfall …
Die Vorlesung hatte begonnen. Nach einiger Zeit öffnet sich leise, aber quietschend die Tür, und eine Frau stellt dem Professor einen Krug und ein Glas hin. Sie kam verspätet. Wir waren im vierten Studienjahr, fühlten uns als Herren der Fakultät und nahmen uns einiges heraus. Entsprechend wurde die Hörerschaft beim Erscheinen der Frau mit dem Krug unruhig. Der Professor merkte das und meinte verständnisvoll: »Liebe Kollegen! Die beste Vorlesung, der beste Vortrag kommt nicht ohne Wasserblasen aus!«
Anderthalb Jahre lang lernten wir Latein. Den Unterricht leitete der Dozent Saketti. Und mit welcher Leidenschaft! Er wollte in jeder Unterrichtsstunde mehr sagen, als die Zeit zuließ. Er überschlug sich und litt, wenn wir etwas nicht verstanden oder Fragen stellten. Vollends in Ekstase geriet er aber, wenn er uns die berühmten Reden Ciceros vortrug.
Saketti gefiel uns sehr als Mensch und Lehrer. Als Andenken wollten wir ihm alle etwas zum Geburtstag schenken. Jemand sagte: »Habt ihr gesehen, was für eine Aktentasche er hat?!« Und in der Tat, es war eine große Aktentasche, aus Leder, alt, speckig und aus der Form gegangen. Wir legten zusammen und kauften eine schöne große Aktentasche. Er war zu Tränen gerührt.
Ich schloss die Universität mit Auszeichnung ab und bekam das Rote
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