Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
war, ging ich mit Vaters Erlaubnis zur Post und schickte an die Juristische Fakultät der MGU ein Telegramm mit bezahlter Rückantwort. Die Antwort kam prompt. »Sie sind immatrikuliert und haben Anrecht auf einen Platz im Wohnheim.«
Das hieß, ich kam in die oberste Kategorie, und das ohne Vorgespräch, von den Aufnahmeprüfungen ganz zu schweigen. Offenbar spielte alles zusammen für diese Entscheidung eine Rolle: meine »Arbeiter-und-Bauern-Herkunft«, die Berufserfahrung, die Tatsache, dass ich bereits Kandidat der Partei war, und natürlich die hohe Auszeichnung. Und sicher auch die Tatsache, dass ich schon aktiv am gesellschaftlichen Leben teilnahm: als Sekretär des Kommunistischen Jugendverbands in der Schule und als Mitglied des Kreiskomitees des Kommunistischen Jugendverbands. Jedenfalls war ich ein idealer Kandidat für die »Optimierung« der sozialen Zusammensetzung der Studentenschaft. So waren die Zeiten damals eben.
Ich freute mich riesig. Die schwere physische Arbeit auf dem Mähdrescher machte mir nichts aus. Mir ging nur dauernd durch den Kopf: »Ich bin Student der Moskauer Universität.«
Die Reise nach Moskau war für mich ein Ereignis. Die erste Fahrt mit der Bahn, ich war neunzehn. Zuvor war ich nie aus dem Stawropoler Land herausgekommen. Es begann gleich mit einem Abenteuer. Bis zum Bahnhof Tichoretzk ließen Vater und ich uns von Autos mitnehmen. Dann setzte er mich in den Zug und verließ ihn erst, als ich einen Platz gefunden hatte. Wir waren beide dermaßen aufgeregt, dass Vater beim Abschied vergaß, mir die Fahrkarte dazulassen.
Ich hatte also keine Fahrkarte, und natürlich dauerte es nicht lange, da kam der Kontrolleur. Ich weiß nicht, wie es mir sonst ergangen wäre, aber auf einmal machte der ganze Waggon einen Aufstand und las dem Kontrolleur die Leviten: »Sein Vater, ein von oben bis unten mit Orden behängter Frontsoldat, hat ihn in den Zug gesetzt, und was machst du?!« Der Kontrolleur musste nachgeben, forderte aber, ich solle am nächsten Bahnhof eine Fahrkarte nach Moskau lösen. Das waren Ausgaben, mit denen ich nicht gerechnet hatte. Aber was sollte ich tun? So begannen meine Fahrten von Priwolnoje nach Moskau und zurück.
Zum ersten Mal befand ich mich auf engstem Raum mit den unterschiedlichsten Menschen. Durch den Zug liefen viele Bettler, darunter auch Kriegsinvaliden. Man ließ sie gewähren. Jedes Mal, wenn einer der Kontrolleure »Ordnung schaffen« wollte, setzten sich die Passagiere vehement für sie ein. Es war ja erst kurz nach Kriegsende, nur ein paar Jahre später.
Auf den vielen Fahrten von und nach Moskau machte ich Station in Rostow, Charkow, Woronesch, Orjol und Kursk. Überall Ruinen, Spuren der verheerenden Zerstörungen des Krieges. Ein paar Mal fuhr ich über Stalingrad nach Moskau. Ich richtete es extra so ein, dass ich schon morgens dort ankam und erst abends oder nachts weiter nach Moskau musste. Ich ging durch die Stadt, besichtigte den Mamajew-Hügel, besuchte die Stellen der schweren Kämpfe. Noch Jahre später war die ganze Erde buchstäblich gespickt mit Metallsplittern. Ein paar davon nahm ich mit und hob sie lange auf. Noch eine Sehenswürdigkeit gab es in dieser zerstörten, aber nicht besiegten Stadt: das neue große Kino »Sieg«. Wenn es sich einrichten ließ, sah ich mir dort einen Film an.
Aber zurück zu meiner allerersten Fahrt in die Hauptstadt. An den Haltestellen der gesamten Strecke kamen Ortsbewohner zum Zug und boten Gläser mit saurer Sahne, gesalzene Gurken und dampfende gekochte Kartoffeln an. Ich brauchte das alles nicht. Mutter hatte mich mit Lebensmittelvorräten eingedeckt. Aber wer zum Essen ein, zwei, drei Gläser Wodka gekippt hatte, kaufte sich Gurken und Sauerkraut.
All das ist mir im Gedächtnis geblieben. Und es bewegt mich, wenn ich es erzähle. Das, was man zum ersten Mal erlebt, besonders, wenn es etwas Bedeutendes ist, bleibt einem offenbar für immer im Gedächtnis haften.
Am Ziel angekommen, ließ ich meinen Koffer bei der Gepäckaufbewahrung des Kasaner Bahnhofs, machte mich auf den Weg zur Universität in die Mochowaja-Straße und staunte über Moskau. Die Menschen auf der Straße erklärten mir, wie man zur Universität kommt. Die erste Begegnung mit der U-Bahn war interessant und komisch, weil ich zunächst nicht wusste, wie ich auf diese Treppe treten sollte, ohne hinzufallen. Heute lache ich darüber, die Rolltreppe benutzt man ja längst automatisch und sieht gar nicht hin. Und das nicht
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