Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
schloss, sagte er, ohne seine Schadenfreude zu verbergen: »Tja, Gorbatschow, eine klare Zwei …«, und trug die Note ohne zu zögern ein.
Obwohl ich bei den anderen Examina die Note »sehr gut« bekommen hatte, wiederholte ich dieses Examen nicht. Das bedeutete den Verlust meines persönlichen Stipendiums. Ein spürbarer Schlag für mein Selbstbewusstsein und erst recht für mein Portemonnaie.
Wie mir scheint, wurde der Universität, Professoren wie Studenten, gegenüber eine besondere Wachsamkeit an den Tag gelegt. Offenbar herrschte ein eingespieltes System allgegenwärtiger Kontrolle. Bei der geringsten Abweichung von der allgemeinen Linie oder dem Versuch, etwas anzuzweifeln, hatte man im besten Fall eine Rüge bei der Komsomol- oder Parteiversammlung zu gewärtigen.
Auch Nachrichten über die neuen Säuberungswellen unter den Universitätsprofessoren drangen zu uns vor. Die Absurdität der Anklagen sprang manchmal so ins Auge, dass sie die Machthaber zum Rückzug zwang. So schlugen sie zum Beispiel den Professor S. W. Juschkow, einen großen Gelehrten, der sein ganzes Leben dem Studium der Kiewer Rus [6] gewidmet hatte, den »Vaterlandslosen Kosmopoliten« zu!
Bei der Versammlung des Wissenschaftsrats, bei der Juschkow in die Mangel genommen wurde, bestieg dieser verstimmt die Tribüne, und statt Gegenargumente zu seiner Verteidigung anzuführen, sagte er nur den Satz: »Schaut mich an!« Er stand vor den Zuhörern in seinem mit einer Kordel gegürteten Russenkittel, einen abgerissenen Strohhut in der Hand, äußerlich die ideale Verkörperung eines alten anständigen russischen Angehörigen der Intelligenzija. Im Saal erscholl Gelächter. Statt der Untersuchung nebulöser pseudowissenschaftlicher Anklagen legte der gesunde Menschenverstand der hitzigen Versammlung eine einfache Frage nahe: »Sind wir denn verrückt geworden, das soll ein Kosmopolit sein?« Die Kritik an Juschkow wurde sofort eingestellt.
Wir liebten die Vorlesungen von Juschkow. Es waren weniger Vorlesungen als »Gespräche im Wohnzimmer«, spannende Erzählungen von den alten Zeiten, vom Leben unserer Vorfahren. Er war ein vorzüglicher Kenner seines Fachs. Aber wir ließen uns ihm gegenüber auch wiederholt zu »ideologischen Spielchen« hinreißen, Fragen wie: »Verehrter Herr Professor, warum meiden Sie in Ihren Vorlesungen Hinweise auf die Klassiker des Marxismus-Leninismus?« Dann öffnete er fieberhaft seine sperrige, geräumige Aktentasche, entnahm ihr eines seiner Bücher, setzte die Brille auf und suchte die besagten Zitate.
Es entspräche nicht der Wahrheit, wenn ich behaupten würde, die massive ideologische Indoktrinierung, der die Zöglinge der Universität ausgesetzt waren, hätte unser Bewusstsein nicht beeinflusst. Wir waren Kinder unserer Zeit. Während ein Teil der Professorenschaft, wie mir heute scheint, die »Spielregeln« nur pro forma einhielt, nahmen wir Studenten vieles aufrichtig und überzeugt für bare Münze. Das Bildungssystem unternahm alles, um ein kritisches Denken zu verhindern. Trotz dieses Systems aber führte die Masse des angehäuften Wissens etwa im dritten Studienjahr zu einem Punkt, da wir über das, was wir eigentlich schon gelernt und uns angeeignet hatten, in ernstes Nachdenken gerieten.
Der Freiheitswille manifestierte sich an der Juristischen Fakultät in einem 1949 inszenierten Gerichtsprozess gegen Ostap Bender. [7] Damals waren die lange Zeit verbotenen Bücher
Zwölf Stühle
und
Das Goldene Kalb
gerade neu herausgekommen. Alles lief nach den Regeln eines echten Strafprozesses. Es gab ein Gericht, einen Staatsanwalt der Anklage, einen Verteidiger und den Angeklagten Ostap Bender höchstpersönlich. In Anbetracht der konkurrierenden Seiten und der Bewertung aller »Lebens- und Tatumstände« Ostap Benders sprach das Gericht ihn frei. Auf diese Weise wurde der Selbstaussage Ostap Benders, er »respektiere das Strafgesetzbuch«, recht gegeben. Allerdings endete das Spiel damit, dass alle Teilnehmer der »Gerichtsverhandlung« aus der Universität ausgeschlossen wurden.
Der Kampf gegen den Kosmopolitismus diente Stalin und seinen Mitarbeitern zur Verschärfung der Kontrolle über die Gesellschaft. Es handelte sich um eine neue Welle der ideologischen Reaktion. Doch der Prozess der Wissensaneignung an der Moskauer Universität, die für ihre demokratischen Traditionen berühmt war, blieb nicht ohne Auswirkungen auf unsere jungen Köpfe. Wir merkten selbst nicht, wie wir uns aufgrund
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