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Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)

Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)

Titel: Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michail Gorbatschow
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Diplom. Aber ich habe zwei Zweien in meinem Zeugnis, eine davon in Latein. Als Professor Saketti sah, dass ich nur »sehr gut« und nur in Latein ein »gut« hatte, reagierte er folgendermaßen:
    »Genosse Gorbatschow! Wie konnte uns beiden das nur passieren?«
    »Ich weiß nicht. Sie sind schuld.«
    Wir lachten beide herzlich.
    So war mein dem Diplom beigefügtes Zeugnis mit den Noten ein Andenken an den Dozenten Saketti.
    Was war das Besondere an unserer Juristischen Fakultät? Sie vermittelte breite und äußerst vielseitige Kenntnisse. An erster Stelle ist der Zyklus historischer Wissenschaften zu nennen: Geschichte und Theorie des Staats und des Rechts; Geschichte der politischen Theorien, Geschichte der Diplomatie; Politökonomie fast in demselben Umfang wie an der Wirtschaftsfakultät, Geschichte der Philosophie, dialektischer und historischer Materialismus; Logik; Latein und Deutsch. Und schließlich eine ganze Reihe juristischer Disziplinen: Kriminal- und Zivilrecht, Kriminalistik, Gerichtsmedizin und -psychiatrie, Kriminal- und Zivilprozessordnung, Verwaltungs-, Finanz-, Kolchose- und Familienrecht, Buchhaltung. Und natürlich: internationales öffentliches und privates Recht, Staat und Recht der bourgeoisen Länder etc.
    Das Studienprogramm ging davon aus, dass die Aneignung der juristischen Fächer eine gründliche Kenntnis der modernen sozioökonomischen und politischen Prozesse erfordert und deshalb die Beherrschung der Grundlagen anderer Gesellschaftswissenschaften umfassen muss.
    In meinen Augen war die Universität ein Tempel der Wissenschaft, ein Zentrum der Köpfe, die unseren nationalen Stolz darstellten, eine Quelle frischer Energie, des Aufbruchs und des Suchens. Hier war der Einfluss der jahrhundertealten russischen Kultur zu spüren, die demokratischen Traditionen der russischen Hochschule hatten sich trotz allem erhalten. Viele berühmte Wissenschaftler und Akademiemitglieder hielten es für eine Ehre, an der MGU lehren und Vorlesungen halten zu dürfen. Viele hatten Berufungen an andere Universitäten hinter sich und waren Verfasser Dutzender Bücher und Lehrbücher. Ihre Vorlesungen eröffneten uns eine neue Welt, ganze Bereiche des menschlichen Wissens, die uns vorher unbekannt waren, und führten uns ein in die Logik des wissenschaftlichen Denkens. Selbst in den finstersten Jahren fühlte man in den Mauern des Gebäudes in der Mochowaja-Straße den Puls des gesellschaftlichen Lebens. Obwohl sie verdrängt waren, hatten sich der Geist der »Wahrheitssuche« und eine gesunde kritische Einstellung erhalten.
    Natürlich darf man die damalige Situation an der Universität auch nicht schönreden. Die ersten drei Jahre meines Studiums fielen mit den Jahren des »Spätstalinismus« zusammen, mit einer neuen Runde von Repressionen, einer hemmungslosen Kampagne gegen den »vaterlandslosen Kosmopolitismus« und die »Kriecherei« vor dem Westen, mit der berühmten »Ärzteverschwörung«.
    Die Atmosphäre war extrem ideologisiert. Wie überall, so dominierten auch in der Gesellschaft die sakrosankten Schemata von Stalins
Kurzem Lehrgang der Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki)
, der als Nonplusultra des wissenschaftlichen Denkens galt. Die Universitätsleitung und die Parteiorgane zielten von den ersten Wochen des Studiums an darauf ab, die jungen Köpfe zu stählen, ihnen einen Haufen eiserner Dogmen einzubläuen und sie von der Versuchung abzuhalten, selbständig denken, analysieren oder vergleichen zu wollen. Der ideologische Zwang wirkte sich auf die eine oder andere Weise auch auf die Vorlesungen, Seminare und Streitgespräche bei studentischen Treffen aus.
    Auf einer Parteiversammlung machte ich einmal eine kritische Bemerkung über einen Lehrer wegen seiner Methode, ein Problem zu analysieren. Walerij Schapko, mein Kamerad im Wohnheim, ein ehemaliger Frontsoldat und Ältester unseres Studienjahrgangs (heute Professor seligen Angedenkens und Verfasser vieler Arbeiten), sagte: »Solche Äußerungen sollte man sich für die Zeit nach dem Examen aufbewahren.« Ich lachte über seine berechnende Haltung. Doch dann kam die Examenszeit. Ich war mir bei der Prüfung sicher, bezog mich aber an einem Punkt auf ein Buch, dessen Titel ich nicht ganz richtig zitierte. Der Prüfer machte ein erstauntes Gesicht. Ich korrigierte mich sofort, doch es war zu spät. Mit einem bissigen Lächeln notierte sich der Lehrer etwas und hörte gar nicht mehr zu, was ich sagte. Als ich

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