Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
nur in Moskau, sondern bei Reisen durch die ganze Welt. Im Gegensatz zu damals …
Noch vor Vorlesungsbeginn lud man mich ins Dekanat der Juristischen Fakultät, wahrscheinlich, um mich kennenzulernen. Man nahm mich an der Juristischen Fakultät gut auf und erklärte mir alles. Ich studierte den Stundenplan und alle Aushänge für die Erstsemester und machte mir Notizen. Als ich zum Wohnheim in der Stromynka-Straße fahren wollte, sprachen mich Journalisten an und baten, ich solle für einen Augenblick mitkommen. Wir erreichten den Manege-Platz, wo schon eine Gruppe Erstsemester von anderen Fakultäten stand. Sie fotografierten uns vor der Manege und dem Kreml. Das Foto erschien in der
Komsomolskaja Prawda
vom 1 . September. Ich habe es mir als Erinnerung an den Beginn meines neuen Lebens aufgehoben.
Die größte Neuigkeit war das Leben in der Hauptstadt: Das war ein richtiger Schock für mich. Ich kam vom Land, wo es weder Elektrizität noch Radio noch Telefon gab, wo die südlichen Nächte abrupt in den Tag übergehen, wo die großen Sterne wie aufgehängte Laternen aussehen. Und die Luft ist im Frühling oder Sommer voller Düfte von Blumen, Bäumen und Gärten. Und plötzlich: das Quietschen der Straßenbahnen, der Donner des U-Bahn-Zugs, die von der Elektrizität erleuchteten Nächte und die ungeheuren Menschenmassen. Anfangs war es schwer, sich an diese Moskauer Hektik zu gewöhnen. Während ich das niederschreibe, denke ich: Ja, das stimmt, und doch ist es nichts im Vergleich mit der heutigen Hektik auf den Straßen, die von Autos und Menschenströmen verstopft sind.
Man hat den Eindruck, damals bedeutete der Mensch noch etwas, während ihn heute in der Stadt auf Schritt und Tritt nur Unannehmlichkeiten verfolgen. Er möchte fliehen. Und das tut er auch. Die Menschen fliehen aus der Stadt zurück ins Dorf, von wo sie herkamen. Dieser Prozess hat in den Großstädten der Welt längst begonnen, die Bevölkerung vieler Großstädte nimmt ab. Aber nicht überall. Mexiko wächst weiter, in Mexiko und dessen Vorstädten wohnt schon ein Drittel der Landesbevölkerung. Und wenn man mit dem Hochgeschwindigkeitszug Hikari Shinkansen von Tokio nach Kyoto fährt, kommt es einem vor, als verlasse man Tokio gar nicht, jeder Fleck ist besiedelt.
Ich musste zuerst den Weg vom Heim nach Sokolniki und von Sokolniki zum Ochotnyj Rjad finden. Dann entdeckte ich mit Freunden aus meiner Gruppe Moskau. Die Atmosphäre in der Universität, besonders in den Gruppen, war sehr angenehm, äußerst freundschaftlich.
Für mich war alles neu: der Rote Platz, der Kreml, das Bolschoj-Theater, meine erste Oper und das erste Ballett, die Tretjakowskij-Galerie, das Puschkin-Museum für bildende Künste, die erste Bootsfahrt auf der Moskwa, eine Exkursion durch das Moskauer Umland, der erste Oktober-Umzug … Und jedes Mal hatte ich zugleich das unbeschreibliche Gefühl, als erkenne ich alles wieder.
Und doch kehrt meine Erinnerung vor allem zu dem unansehnlichen Studentenheim im Stadtteil Sokolniki zurück. Jeden Tag legten wir mit U-Bahn, Straßenbahn und zu Fuß sieben Kilometer zu unserer Alma Mater zurück. Und trotzdem haben wir in den fünf Studienjahren noch nicht einmal die Hälfte Moskaus kennengelernt. Noch bis heute stehen mir klar vor Augen: sämtliche Straßen und Gassen um die Universität herum, alle Inseln des Studenten-Archipels in der Nähe des Heims, das Kino »Hammer« in der Russakowskaja-Straße und der Russakow-Club, das unvergleichliche Kolorit des alten Preobraschenskij-Platzes (von dem heute leider wenig übrig ist), die alten Dampfbäder in der Buchwostowskaja-Straße und der Sokolniki-Park. Nicht zu vergessen natürlich der Gorkij-Park, damals der Ort, an dem sich die Moskauer am liebsten erholten.
Ich weiß noch, wie ich mich vor Raissa, die ich noch nicht lange kannte, in Grund und Boden blamierte … Es gab im Park viele Geräte, darunter Kraftmesser. Kraft hatte ich, und das wollte ich meiner Freundin mal vorführen. Alles lief gut, aber auf einmal ging etwas schief. Der Apparat war so gebaut, dass man ihn – wie eine Pumpe zum Aufpumpen der Räder – mit den Füßen halten musste. Mit den Händen musste man aber nicht wie bei einer Pumpe nach unten drücken, sondern nach oben ziehen: Dann schlug der Zeiger aus und maß die Kraft. Ich dachte, ich führe Raissa meine Möglichkeiten vor. Aber … Es geschah ein Unglück: Auf einmal machte mein Kreuz nicht mit, ich konnte mich nicht aufrichten. Raissa
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