Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
dieses neuen Wissens von der Welt veränderten. Unsere Einstellung zu den gesellschaftlichen Disziplinen und besonders zum Studium des
Kurzen Lehrgangs der Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki)
war eine Staats- und Parteisache. Aber wir studierten auch gründlich Lenins Werke. Das erschloss uns zusätzlich die Ansichten Lenins. Es machte uns darüber hinaus mit den Ansichten von Lenins Opponenten bekannt, die er, wie es sich für einen Forscher gehört, in seinen Werken ausführlich zitierte.
Lenin war ein fanatischer Marxist, und das »mit russischem Einschlag«, also noch fanatischer. Der »Leninismus« ist bereits eine Korrektur des ursprünglichen Marxismus, denn der ursprüngliche, frühe Marx mit seinen anthropologischen Suchbewegungen war vergessen.
Ich erinnere mich noch an die Dozentin Maria Petrowna Kasatschok, die das Seminar zum »Kurzen Lehrgang« leitete. Sie versuchte uns die ganze Zeit von der Richtigkeit des offiziellen »Marxismus-Leninismus« in der Stalin’schen Interpretation zu überzeugen und jegliche Zweifel an irgendwelchen Phasen der Geschichte der Kommunistischen Partei zu zerstreuen.
Aufgrund meiner Herkunft vom Dorf hatte ich mit vielen Beschreibungen der Bauernpolitik in den Büchern Probleme. Die Lage der Bauern glich in jener Zeit der von Sklaven. Sie hatten noch nicht einmal Personalausweise und konnten sich nicht frei im Land bewegen. Und was die Steuerpolitik betrifft: Sie war einfach barbarisch. Egal ob Tiere gehalten wurden oder nicht, jeder Bauernhof musste dem Staat 20 Kilogramm Fleisch und 120 Liter Milch abliefern. Und völlig absurd waren die Gesetze, die auf Initiative des Finanzministers Swerew verabschiedet wurden: Jeder Obstbaum wurde mit Steuern belegt. Der Minister wusste wohl nicht oder wollte nicht wissen, dass die Bäume nicht jedes Jahr Früchte tragen. Das führte schließlich dazu, dass die Bauern ihre Gärten abholzten.
Das Stalinregime behandelte die Bauern wie Leibeigene. Nicht umsonst überkamen die Dorfbewohner häufiger als die Städter Zweifel an der Gerechtigkeit dieser Ordnung. Begriffe wie »Kollektivierung« und »Kolchossystem« waren für mich im Unterschied zu den Städtern keine Theorie, sondern Realität. Ich wusste aus persönlicher Erfahrung, wie viel Ungerechtigkeit es sowohl bei der Kollektivierung als auch im Kolchossystem gab. All das ließ uns jungen Menschen natürlich keine Ruhe, denn ähnliche Beobachtungen, Erlebnisse, Erfahrungen hatte jeder.
Die folgende Geschichte ist kein bisschen übertrieben. Ich habe sie von Leonid Nikolajewitsch Jefremow, dem ersten Sekretär des Regionskomittees der Partei im Stawropoler Land, der zuvor mit Chruschtschow als Kandidat für das Präsidium des ZK der KPDSU gearbeitet hatte. Auf dem 19 . Parteitag 1952 nahm er als Delegierter teil und war auch auf der Sitzung des ZK nach dem Parteitag anwesend, bei der die oberste Parteileitung gewählt wurde. Stalin spielte im Plenum eine Posse: Er sagte, er sei zu alt und trete zurück. Wie Jefremow sich erinnerte, guckte sich Stalin dabei sehr aufmerksam im Saal um und achtete darauf, wer wie auf seine Worte reagierte. Die Reaktion kam prompt. Sofort liefen ein paar Männer (einer von ihnen war Malenkow) auf die Tribüne und baten Stalin, seine Tätigkeit als Staatslenker fortzuführen. »Etwas anderes verstünde das Volk nicht.« Der Führer bedeutete mit der Hand: »Na gut, ihr habt mich überredet.«
Und dann (so war es sicher auch geplant) fiel Stalin über einen nach dem anderen her, vor allem über Molotow und Mikojan. Mikojan warf er vor, er nehme die Bauern zu sehr in Schutz, nannte ihn einen »neuen Frumkin«. Frumkin war ein alter Parteigenosse, ein Wissenschaftler, der gegen die Bauernpolitik nach Lenin protestiert hatte. Sein eigenes Verhältnis zu den Bauern beschrieb Stalin so: »Wir haben dem Bauern Land zur ewigen Nutzung gegeben. Der Bauer ist unser ewiger Schuldner.« Das war die ganze Agrarpolitik!
Wie ich bereits erwähnte, fiel in die Zeit meines Universitätsstudiums die berüchtigte »Ärzteverschwörung« [8] , ein Hirngespinst der Sicherheitsorgane. Sie gab Anstoß zu verschärfter antiwestlicher Propaganda, zu hemmungslosen antisemitischen Ausfällen und Hochverratsanklagen gegen Juden. Das war ungerecht, niederträchtig und löste Protest aus.
Mit einem Wort: Die alltägliche Wirklichkeit mischte sich in das Studium ein und korrigierte unsere angelesenen Vorstellungen vom »gerechtesten
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