Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
Stunden spazieren: vom Fluss Jausa bis zur U-Bahn-Station Sokolniki, unser erster gemeinsamer Spaziergang. Es war kalt, aber unsere Stimmung besserte sich. Wir sprachen über Studienangelegenheiten. Gegen 11 Uhr mussten wir in die Stromynka-Straße zurück.
Unsere Zimmer lagen auf verschiedenen Etagen, waren aber nicht weit voneinander entfernt. Ich brachte Raissa bis zur Tür und sagte: »Das war ein schöner Spaziergang. Er hat mir gut gefallen.«
»Ja, ja.«
»Und was haben Sie morgen Abend vor?«
»Ich weiß nicht.«
»Wollen wir ins Kino gehen? Der Unterricht endet bei Ihnen um dieselbe Zeit wie bei uns.«
»Einverstanden.«
»Ich hole Sie um fünf ab.«
»Gut.«
Am nächsten Tag gingen wir ins Kino. Wir aßen ein Eis und sprachen über dies und jenes, über Kleinigkeiten. Mir scheint, in solchen Fällen haben Kleinigkeiten eine enorme Bedeutung. Statt eine Bekanntschaft mit dem Vorzeigen seines Personalausweises zu beginnen, sollte man lieber mit Kleinigkeiten anfangen.
So begannen unsere fast täglichen Spaziergänge. Und eines Abends lud mich Raissa in ihr Zimmer ein, wo sich ihre Bekannten versammelt hatten. Die Mädchen waren angriffslustig und nicht auf den Mund gefallen. Eine innere Stimme sagte mir: Halt lieber den Mund. Ich antwortete auf Fragen, stellte aber selbst keine.
Raissa war etwas Besonderes unter ihnen. Sie war keine Schönheit, aber sehr liebenswürdig und sympathisch: ein offenes Gesicht und offene Augen, eine schlanke, elegante Figur (am Anfang des Studiums hatte sie an der Universität Turnen betrieben, bis zu einem Unfall, bei dem sie von den Ringen stürzte) und eine bezaubernde Stimme, die mir noch jetzt in den Ohren klingt.
Außer ihr und Nina Ljakischewa wohnten in Raissas Zimmer die Mädchen Lija Rusinowa und noch eine Nina, die mit den Studenten der Philosophischen Fakultät Jurij Lewada und Merab Mamardaschwili befreundet waren. Jurij Lewada wurde später Professor, Schöpfer und Leiter eines soziologischen Zentrums, das heute seinen Namen trägt. Sein Leben endete vor kurzem.
Merab Mamardaschwili war ein großer, schöner Georgier. Schon damals hieß es, er gebe Anlass zu großen Hoffnungen. Merab nahm mit den Jahren einen herausragenden Platz unter den Philosophen der UDSSR ein. Schade, dass er so früh starb. Man hat mich später nach Mamardaschwili gefragt, aber unsere Begegnungen waren genauso flüchtig wie die mit Jurij Lewada. Ich kann wenig über die beiden persönlich sagen. Als es Anfang der neunziger Jahre in Georgien zu den stürmischen Ereignissen kam, sagte Mamardaschwili die Worte, die nicht nur in Georgien, sondern in der ganzen Sowjetunion berühmt waren: »Wenn mein Volk für Swiad Gamsachurdija stimmt, werde ich mich gegen mein Volk stellen.«
Aber all das geschah später, während wir damals einer nach dem anderen die Mädchen dieses Zimmers heirateten. Allerdings blieben nur Raissa und ich unserem Versprechen bis zum Ende treu. Zuerst gingen Nina und Mamardaschwili auseinander, dann Lewada und Lija. Nach Raissas Tod bekam ich einen großen handschriftlichen Brief von Nina, Mamardaschwilis Frau. Ich bewahre ihn als Andenken an unsere studentische Jugend auf. Unlängst wurde er in dem Buch über Raissa
Striche zu einem Porträt
veröffentlicht.
Unsere Fakultäten, die juristische und die philosophische, lagen nebeneinander in der Mochowaja-Straße, sodass Raissa und ich uns häufig nach dem Unterricht unter dem Torbogen im Hof trafen und von da aus durch Moskau bummelten. Wir kamen immer an zwei oder auch drei Kinos vorbei. Es ging uns gut zusammen. Anfangs schritten wir nebeneinander, dann nahmen wir uns an der Hand. Das war nicht nur eine Gewohnheit, sondern durch diese Berührung hatten wir immer direkten Kontakt miteinander.
Alles lief wunderbar. Meine Studienkameraden sagten scherzhaft: »Michail ist für uns verloren.« Aber Jura Topilin und Wolodja Liberman wurden auch Raissas Freunde. Sie waren stolz auf ihren Beitrag zum Entstehen unserer Gefühle füreinander.
An einem Wintertag passierte jedoch etwas Unerwartetes. Wie immer trafen wir uns nach dem Unterricht im Hof der MGU in der Mochowaja-Straße und beschlossen, zu Fuß zur Stromynka-Straße zu gehen. Raissa schwieg fast den ganzen Weg über und antwortete geistesabwesend auf Fragen. Ich spürte, dass etwas mit ihr nicht stimmte, und sprach sie direkt darauf an. – Und bekam zu hören: »Wir sollten uns nicht mehr treffen. Es ist mir die ganze Zeit gut gegangen. Ich bin dir
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