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Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)

Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)

Titel: Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michail Gorbatschow
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und ein sehr aufmerksamer und herzlicher Mensch. Und dieser herzensgute Mann hing von irgendwelchen Sowjets und Forderungen ab, die uns diese hinterwäldlerischen Bestimmungen beschert hatten.
    Die Geschlechtertrennung blieb bis zur Komsomol-Delegiertenkonferenz der Universität im Dezember 1953 bestehen. Das war die wildeste Konferenz aller Zeiten. Das Rektorat, die Dekane und Kuratoren aus Bezirk und Stadt wurden wegen Heuchelei und Missachtung der Studenten angegriffen. Während der Konferenz erschien die Zeitschrift
Stachel
, die die Diskussion und das Komsomol-Leben überhaupt in einem satirischen Licht darstellte. In der ersten Pause wurden die Delegierten mit einer Unmenge satirischer Flugblätter überschüttet.
    Ich weiß noch, dass an einer der Säulen in der Vorhalle eine abgerollte Papierrolle mit einer Zeichnung hing, auf der der Rektor eine Heiratsurkunde mit dem Stiefel tritt. Die Konferenz kritisierte die Leitung in Grund und Boden und verlangte sofortige Änderungen. Die Reaktion ließ nicht auf sich warten. Während die Studenten in den Weihnachtsferien waren, wurden sie im Wohnheim nach Fakultäten aufgeteilt. Ein normales Leben begann …
    Die Leninberge sind eine wunderbare Moskauer Gegend. Über das Gebäude der MGU kann ich nur schwer urteilen, aber mir scheint es – wie auch die anderen Hochhäuser, die auf Stalins Befehl gebaut wurden – bis heute recht ausdrucksvoll. Übrigens, was den Bau der Universität betrifft, unseren »Bau des Kommunismus«, so haben daran auch GULAG -Häftlinge mitgewirkt.
    1952 trat ich in die Partei ein. Aber ich hatte ein Problem: Was sollte ich in dem Fragebogen über meine repressierten Großväter angeben? Obwohl Großvater Pantelej keinen Prozess durchlaufen hatte, hatte er 14  Monate gesessen. Auch Großvater Andrej war ohne jeden Prozess nach Sibirien geschickt worden. Bei meiner Bewerbung zum Parteikandidaten hatte das keine Rolle gespielt, meine Landsleute wussten alles über mich. Ich schrieb meinem Vater. Schließlich hatte er bei der Aufnahme in die Partei diese Frage auch schon beantworten müssen. Als wir uns im Sommer trafen, sagte er: »Ich habe nichts davon geschrieben. So etwas gab es an der Front nicht, wenn man vor einer Schlacht in die Partei aufgenommen wurde. Die Leute riskierten ihr Leben. Das war alles.«
    Aber ich, sein Sohn, musste im Parteikomitee und später im Stadtbezirkskomitee der KPDSU ausführlich die Geschichte meiner Vorfahren erläutern.
    Raissa
    Die Moskauer Universität war nicht nur ein Zentrum von Menschen unterschiedlicher Denkweise, Lebenserfahrung und Nationalität. Hier kreuzten sich die Schicksale von Menschen manchmal für einen Moment, nicht selten aber auch für lange Jahre. Und es gab ein Zentrum, wo solche Begegnungen am häufigsten vorkamen: unser Studentenclub in der Stromynka-Straße.
    Das bescheidene niedrige Gebäude, wohl eine frühere Soldatenkaserne, wurde für uns zum Mittelpunkt echter Kultur. Berühmte Sänger und Schauspieler kamen hierher: Lemeschew, Koslowskij, Obuchowa, Janschin, Marezkaja, Mordwinow, Pljatt und andere. Die Crème de la Crème des Moskauer Theaterlebens. Die Schauspieler betrachteten ihre Auftritte als Erfüllung einer Ehrenpflicht, die darin bestand, der Jugend ein Gefühl für das Schöne zu vermitteln. Eine wundervolle, auf die vorrevolutionäre Zeit zurückgehende Tradition der Künstler, die heute leider verloren ist. Und uns, den Studenten aus »verschiedenen Städten und Dörfern«, brachten diese Begegnungen wirklich die Kunst nahe.
    Wie ich schon sagte, wurden in dem Club zahlreiche Zirkel angeboten, angefangen mit Hauswirtschaft, wo man lernen konnte, ein Rührei zu braten und ein altes Kleid oder eine alte Hose zu wenden, bis zu einem Zirkel mit Gesellschaftstänzen, die in jenen Jahren massenhaften Anklang fanden. Von Zeit zu Zeit wurden im Club Tanzabende veranstaltet. Ich nahm nur selten teil, sondern las lieber. Aber meine Studienfreunde waren oft da und diskutierten hinterher stürmisch die Qualitäten ihrer Partnerinnen.
    Im Herbst 1951 saß ich eines Abends in meinem Wohnheimzimmer und bereitete mich auf ein Seminar vor. Auf einmal kamen meine Freunde Jura Topilin und Wolodja Liberman hereingestürmt und drängten mich, mit in den Club zu kommen. »Hör auf zu pauken! Weißt du, was da für ein Mädchen aufgetaucht ist?«
    »Als ob es wenig Mädchen auf der Welt gäbe! Ich will noch ein wenig lernen.«
    »Lass es lieber!«
    »Schon gut, ich komme

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