Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
Mensaschlange hinter Raissa stand und sah, wie sie ein Glas Tomatensaft nahm, sagte einmal: »Jetzt ist klar, warum sie solche Wangen hat.«
In allen Lebenslagen gut auszusehen war Raissa ein Bedürfnis. In all den Jahren, die wir zusammenleben sollten, sah ich sie morgens nie ungepflegt. Das vererbte sich auch an Irina und die Enkelinnen. Die Großmutter blieb ihnen als ein Vorbild an Eleganz im Gedächtnis.
Aber zurück zu unserem Hochzeitsabend. Die Brautschuhe »pachteten« wir bei Raissas Freundin Nina. Und natürlich tranken, sangen, aßen und tanzten wir. Es gab unendlich viele Glückwünsche, dann kam der Ruf »Küsst euch!« Das war ein Problem, denn Raissa empfand einen Kuss leider als etwas sehr Intimes und nur für uns beide Bestimmtes. Wir tranken ordentlich und übernachteten dann in der Stromynka-Straße alle zusammen in einem Zimmer. Etwa dreißig Personen, Jungen und Mädchen.
Für Raissa und mich brach eine glückliche Zeit an: Wir lernten uns kennen. Wir vergaßen alles – und waren überrascht, als Raissa schwanger wurde. Wir wünschten uns beide sehr ein Kind, aber die Ärzte hatten Raissa strikt verboten, ein Kind zu gebären. Sie hatte ein Jahr zuvor einen schweren Rheumaschub gehabt. Es kam vor, dass alle ihre Gelenke anschwollen, kleine wie große. Dann lag sie da wie eine Wachspuppe und konnte sich nicht rühren. Das war auch in der Stromynka-Straße vorgekommen, ich hatte sie da mit meinen Freunden aus dem Studentenheim auf einer Bahre ins Krankenhaus bringen müssen. All das, die Krankheit und die Behandlung, hatten ernste Auswirkungen auf das Herz. Die Ärzte sagten: Wir haben keine Garantie, dass sie gebären kann und wir nicht wählen müssen, ob wir die Mutter oder das Kind retten.
Wir wussten nicht, was wir tun sollten. Raissa weinte die ganze Zeit. Ich sagte: »Kinder können wir noch später haben, jetzt müssen wir uns nach den Ärzten richten.« Im Entbindungsheim in der Schabolowka-Straße wurde eine Abtreibung vorgenommen.
Wir waren sehr unerfahren. Niemand hatte sich damals ernsthaft mit diesen Dingen beschäftigt: weder die Schule noch die Universität noch medizinische Institutionen. Literatur zu diesen Problemen gab es nicht. Später sprach ich mit den Ärzten und fragte: »Was würden Sie empfehlen?«
Die Antwort war einfach: »Sie müssen sich in Acht nehmen.«
»Und was ist das Beste?«
»Das Effektivste ist Enthaltung.«
Das war alles, was wir an Empfehlungen bekamen.
So begann unser Leben als Paar: einerseits strahlend, elegant, lustig; andererseits steckten wir in der Klemme. Von den Ärzten wurde uns ein Klimawechsel empfohlen. Der Umzug in den Süden, in meine Heimat wirkte sich wohltuend auf Raissas Gesundheit aus, und am 6 . Januar 1957 (Heiligabend) brachte die fünfundzwanzigjährige Raissa eine Tochter zur Welt: Irina.
1954 machte Raissa Examen. Ich hatte noch ein Jahr vor mir. Das Wichtigste für uns war, zusammenzubleiben, entweder in Moskau oder an der Stelle, die man mir in einem Jahr nach dem Examen zuteilen würde. Raissa bekam die Empfehlung, zu promovieren. Leider war das an der Philosophischen Fakultät der MGU nicht möglich, sodass sie an den Lehrstuhl für Philosophie am pädagogischen Institut wechselte. Wir hatten also noch ein Jahr, und wie sich unser Schicksal weiter entwickeln würde, daran dachten wir erst mal nicht.
Zu unseren Plänen für jenes Jahr gehörte eine Reise zu meinen Eltern nach Priwolnoje. Es wurde Zeit, die »diplomatische« Arbeit zur Wiederherstellung unseres Rufes aufzunehmen. Während ich meine Eltern immerhin in recht vager Form über meine Heirat aufgeklärt hatte, hatte Raissa ihren Eltern gar nichts gesagt.
Im Sommer 1954 machten wir uns nach Priwolnoje auf. Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, welchen Weg wir nahmen. Jedenfalls fuhren wir erst mit dem Zug und schlugen uns dann irgendwie per Anhalter durch.
In Priwolnoje angekommen, gingen wir, ohne zu Hause vorzufahren, gleich zu meiner Großmutter Wasilisa. Ich fuhr nie an ihrem Haus vorbei, ohne sie zu besuchen. Im letzten Herbstmonat des Jahres 1953 war mein Großvater Pantelej gestorben, der Vater meiner Mutter. Ich erinnere mich, wie sie mich zum Studium nach Moskau verabschiedeten. Ich sprang auf die Ladefläche des Lasters, schaute mich um und sah Großvater Pantelej: Er stand da und weinte. Das war sonst nicht seine Art, er war ein verhaltener Mensch. Alle meine Landsleute und Bewohner von Priwolnoje schätzten ihn, und obwohl am Tag des
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