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Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)

Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)

Titel: Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michail Gorbatschow
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gleich.«
    Ich dachte nach, stand auf und ging in den Club. Damals war mir natürlich nicht klar, dass ich meinem Schicksal entgegenging. Ich sah meine Studienkollegen und trat auf sie zu. Sie debattierten über irgendetwas und lachten mit ihren Mädchen. Der Grund für ihre Fröhlichkeit war Jura Topilin, ein Kerl von zwei Meter Länge. Sie sprachen sich ab, wer den nächsten Tanz mit wem tanzt. Jura wollte eine Studentin als Partnerin, die ich zum ersten Mal sah. Meine Freunde lachten ihn aus: »Das geht nicht. Was soll das denn für ein Paar sein?!«
    Tatsächlich war das elegante, sehr zarte, rothaarige Mädchen das absolute Gegenteil von meinem Freund. Andere forderten sie auf. Und plötzlich sagte diese scheinbar bescheidene, ruhige Studentin: »Ich komme mit Jura mit. Wir sind Kollegen, wir arbeiten zusammen im Studentenkomitee des Wohnheims. Ich tanze mit ihm. Wir haben genug Gesprächsstoff.«
    Ich stand da, beobachtete und wartete, bis der Tanz zu Ende war. Als das der Fall war, wurde ich Raissa Titarenko vorgestellt. Damals, bei unserer ersten Begegnung, zeigte sie keinerlei Interesse an mir. Ich dagegen versuchte zu verbergen, dass sie mich sofort tief beeindruckt hatte. Wir kamen nicht dazu, uns unter vier Augen zu unterhalten. Es folgte nur noch ein letzter Tanz, und schon war der Abend zu Ende.
    Ein paar Tage später lud Jura Topilin Raissa und einige andere Mädchen von der Philosophischen Fakultät in unser Zimmer ein. Wir tranken Studententee und führten ein belangloses Gespräch. Raissa beachtete mich nicht. Sie schlug bald vor, auseinanderzugehen. Und dann kam es auf einmal zu einem vollkommen absurden Gespräch. Die Mädchen wollten wissen, wer wie alt ist und wer an welchen Frontabschnitten im Krieg war. Tatsächlich hatten die meisten meiner Zimmergenossen an der Front gekämpft. Auch mich fragten sie. »Und Sie?«
    »Ich war nicht an der Front.«
    »Warum?«
    »Als der Krieg endete, war ich vierzehn.«
    Und auf einmal sagt Raissa: »Ich hätte nie gedacht, dass Sie erst zwanzig sind.«
    Ich reagierte idiotisch. Ich holte meinen Personalausweis und zeigte ihn ihr – und litt danach die ganze Zeit: Es war mir peinlich vor den anderen. Ich konnte nur sagen: »Nach Ihrem Alter will ich nicht fragen, das tut man nicht.«
    »Und was meinen Sie?«
    »Ich denke, wir sind Altersgenossen.«
    »Nein, Sie sind älter«, lautete die Antwort. Das war nahezu offiziell, wir siezten uns.
    So endete eine weitere Begegnung, nach der ich das Gefühl hatte, ich verliere den Kopf. Ich wollte Raissa sehen und von ihr gesehen werden. Und das geschah auch, denn im Studentenheim war immer Betrieb, und man traf sich mehrmals am Tag in der Vorhalle, in der Mensa, am häufigsten jedoch in der Bibliothek. Aber auch da sagten wir uns nur »Guten Tag«. Und das war alles. Raissa hielt Abstand.
    Sie hatte mich einfach verzaubert. Sogar in dieser einfachen Kleidung, die sie trug, wirkte sie sehr stark auf mich. Einmal erschien sie plötzlich in einem Hütchen mit Schleier. Wie kam sie dazu? Offenbar legte sie doch Wert darauf, wie sie auf die anderen wirkte. Ein andermal sah ich sie mit einem langen Lulatsch mit Brille. Er hatte ihr Pralinen spendiert. Ich begrüßte sie. Sie antwortete. Damit war unsere Begegnung vorbei. Ich fragte Jura, was das für ein Kerl sei, mit dem ich Raissa gesehen hatte. Jura meldete mir einige Zeit später, es sei ein Physikstudent namens Anatolij Sarezkij. Jura sagte: »Weißt du, Michail, ich muss dich enttäuschen. Nach meinen Informationen haben die beiden weitreichende Pläne für die Zukunft.« Dann bin ich wohl zu spät gekommen, dachte ich mir.
    Etwa zwei Monate später besuchte ich ein Konzert in unserem Club. Der Saal war brechend voll. Ich ging durch den Gang zur Bühne, fand aber keinen freien Platz. Plötzlich stand ein Mädchen in einem Kleid mit blauen Punkten vor mir – Raissa. Sie fragte: »Suchen Sie einen Platz?«
    »Ja.«
    »Nehmen Sie meinen, ich gehe.«
    Ich weiß nicht, was mich dazu brachte, irgendein innerer Impuls offenbar. Ich sagte: »Ich begleite Sie.«
    Sie wehrte sich nicht. Ich spürte, irgendetwas stimmt nicht mit ihr, und fragte: »Warum wollen Sie denn gehen?«
    »Ich habe irgendwie keine richtige Lust.«
    Ihre Laune war wirklich miserabel. Als wir den Saal verließen, sagte ich: »Lassen Sie uns ein wenig spazieren gehen.«
    »Einverstanden.«
    »Aber dann müssen wir etwas Wärmeres anziehen.«
    Zehn Minuten darauf trafen wir uns wieder. Wir gingen zwei

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