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Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)

Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)

Titel: Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michail Gorbatschow
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besonders wegen der Ablehnung des Experiments ihrer Kollegen in Schtschokino durch den Minister für Chemieindustrie. Auf dem Rückweg brachte ich andere Bereiche der Volkswirtschaft ins Spiel.
    »Wir haben eine kritische Situation im Gesundheitswesen. Aufgrund des lächerlichen Gehalts, das von oben festgesetzt ist, fehlt es in den Polikliniken und Krankenhäusern an Ärzten und noch mehr an Krankenschwestern und Pflegerinnen. Keiner kümmert sich um die Kranken. Das Problem bedarf dringend einer Lösung, und die gibt es auch. Geben Sie den Leitern der Krankenhäuser das Recht, im Rahmen des festgesetzten Budgets selber über das Gehalt ihrer Mitarbeiter zu entscheiden, dann erledigt sich dieses Problem. 30  Prozent der Mittel werden ja nicht ausgeschöpft, weil die Leute sich weigern, für ein so niedriges Gehalt zu arbeiten. Einige leitende Ärzte verstoßen auf eigenes Risiko gegen die Bestimmungen, haben das Problem aber auf diese Weise gelöst …
    Einige Monate später, als ich in Moskau war, musste ich zu Kosygin.
    »Wissen Sie«, sagte er lächelnd, »hier in meinem Arbeitszimmer haben vor kurzem zwei Moskauer Ärzte gesessen, ein Mann und eine Frau, beide Leiter großer Krankenhäuser. Ich habe sie gefragt: ›Euer Minister will das Gehalt des mittleren Krankenhauspersonals um 10 bis 20  Rubel erhöhen, aber es gibt auch eine andere Variante: nämlich die Chefärzte im Rahmen des Budgets selbst über die Höhe des Gehalts entscheiden zu lassen. Welche Variante ziehen Sie vor?‹ Die Ärztin entschied sich sofort für den zweiten Vorschlag, auch der Mann schloss sich nach kurzem Nachdenken an. Es stellte sich heraus, dass der Personalmangel bei ihnen jedes Jahr 25  Prozent betrug und das Budget nie ausgeschöpft wurde. Ich habe schon mit dem Sekretär des Moskauer Stadtkomitees Grischin gesprochen, wir werden versuchen, diese Variante in Moskau in die Tat umzusetzen.«
    Ich sah, wie er sich über diesen Sieg freute, auch wenn es nur ein lokaler war. Zu einer allgemeinen Verfügung kam es denn auch nicht. Und das im Gesundheitswesen. Was wollte man da von der eng mit dem allmächtigen militärindustriellen Komplex verbundenen Chemieindustrie erwarten? Wie erklärt sich die Hilflosigkeit der Unionsregierung? Offenbar band ihr die Angst vor einer Kettenreaktion die Hände. Denn genau davor hatte das System Angst.
    Noch ein weiteres Gespräch ist mir in Erinnerung geblieben. Es ging um die Arbeitsproduktivität. Ich erzählte, was mir bei den Betriebsbesichtigungen in Frankreich aufgefallen war: »In einer vergleichbaren Unterabteilung arbeiten dort sehr viel weniger Fachkräfte.«
    »Das liegt nicht an unseren Arbeitern«, sagte Kosygin, »die sind kaum schlechter als die Arbeiter im Ausland. Wir verlieren viel durch die schlechte Organisation der innerbetrieblichen Transportwege, der Lagerwirtschaft und der allgemeinen Produktionskultur. Die Hilfs- und Ingenieurarbeit muss automatisiert werden. Dazu sind große Veränderungen nötig. Das ist der Punkt!«
    Da stellte ich ihm die entscheidende Frage: »Warum haben Sie dann nachgegeben und die Reform zu Grabe tragen lassen?«
    Er schwieg und stellte dann eine Gegenfrage: »Warum haben Sie als Mitglied des ZK die Reform auf dem Plenum nicht verteidigt?«
    »?«
    Damit war das Gespräch zu Ende. Ich kam noch oft auf dieses Thema zurück, es nahm mich immer mehr gefangen. Darum willigte ich ein, als mir Kulakow im Herbst 1977 nach einer fünfstündigen Diskussion vorschlug, einen Bericht über die Probleme der Agrarwirtschaft zu verfassen. Ich wählte das wichtigste Problem für das Politbüro aus: die wirtschaftlichen Zusammenhänge zwischen der Landwirtschaft und den anderen Wirtschaftszweigen, Fragen der Steuerung.
    Selbst jemandem, der von Wirtschaft nichts versteht, ist klar: Wenn die Preise zwischen den Produzenten nicht ausgewogen sind, droht der benachteiligten Seite die Pleite. Genau das geschah mit der Landwirtschaft. Die Verkaufspreise waren so niedrig, dass mit dem Anwachsen der Produktion nur die Verluste der Kolchosen und Sowchosen wuchsen.
    Zu meiner Zeit versuchte man zweimal, diesen Sachverhalt zu korrigieren; 1953 nach Stalins Tod und 1965 kurz nach dem Sturz Chruschtschows. Sobald die Kolchosen und Sowchosen mehr Selbständigkeit bekamen und die Verkaufspreise sich den realen Kosten annäherten, stieg die landwirtschaftliche Produktion an. Aber in dem einen wie dem anderen Fall waren die Impulse zu kurz. Nur ein, zwei, bestenfalls drei, vier

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