Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
Brandenburger Tor und dahinter die Mauer, Symbol der geteilten Nachkriegswelt. Rechts vom Brandenburger Tor hinter der Mauer das finstere Reichstagsgebäude. Die ganze Stadt schien mir finster und kalt, als ich sie damals sah. Doch wo wir auch waren: in Städten, in Betrieben, auf dem Land, die Begegnungen mit den Menschen fanden in einer guten Atmosphäre statt, auch wenn sie ein wenig kühl waren.
Vieles habe ich vergessen, aber ein paar markante Eindrücke erinnere ich. So zeigte man uns in Dresden die Spuren des Dramas dieser Stadt, die kurz vor Kriegsende massiven Luftangriffen der Alliierten ausgesetzt war – und gleich neben dieser Tragödie das Wunder der »Sixtinischen Madonna« in der Dresdener Gemäldegalerie.
In Cottbus waren wir an einem Sonntag bei den Lausitzer Sorben zu Besuch, Slawen, die seit langem in Südsachsen leben. Wir blamierten uns schrecklich. Wie alle Touristen setzte man uns in Ausflugsboote, die von sorbischen Frauen in ihren Trachten gerudert wurden. Alles war sehr schön. Aber es war eine blöde Situation: Wir stämmigen, wohlgenährten Männer erholten uns, während die Frauen am Ruder saßen. Da es ein Sonntag war und die Kanäle mit Ausflugsbooten gespickt waren, wurden wir Ziel ironischer Zurufe und spöttischer Bemerkungen. Wir baten, uns möglichst schnell zum Ufer zurückzubringen.
Das Programm sah eine Reise nach Potsdam vor. Wir besichtigten Sanssouci und waren an dem Ort der Potsdamer Konferenz, wo sich 1945 die Regierungsoberhäupter der Siegermächte trafen. Man zeigte uns, wer wo saß, vergaß nicht zu erzählen, dass ein Journalist ein Stückchen Holz von Stalins Sessel als Souvenir hatte mitgehen lassen und wie Truman reagierte, als er das Telegramm erhielt, das die Fertigstellung der Atombombe mit den Worten meldete: »Das Kind ist gesund zur Welt gekommen.«
Wir waren fünf Jahre vor dem Wechsel von Ulbricht zu Honecker in der DDR . Letzterer legte schon damals eine große Selbstsicherheit an den Tag, als er am Schluss des Aufenthalts mit unserer Delegation sprach.
Über unsere Reise schickten wir einen Bericht ans ZK , in dem stand, die Reform in der DDR verdiene große Beachtung.
Bulgarien besuchte ich im Rahmen der Städtepartnerschaft zwischen Stawropol und Pasardschik, als man dort den 25 . Jahrestag des Sozialismus feierte. Es gab viele Treffen, Aufmärsche und Reden, eine Flut warmer Gefühle und Schwüre ewiger Freundschaft. Auch Möglichkeiten der Zusammenarbeit wurden besprochen. Es stellte sich heraus, dass die Bulgaren auf Regionsebene über mehr Rechte verfügten als wir, die wir bei allen, selbst den unwichtigsten, Fragen erst das Einverständnis Moskaus einholen mussten. Dimitr Schulew, der bald den Posten des Regionssekretärs der Bulgarischen Kommunistischen Partei antreten sollte und uns in Stawropol besuchen kam, wunderte sich wirklich darüber. Später wurde er bulgarischer Botschafter in der UDSSR , und wir kamen uns näher.
1974 war ich zum zweiten Mal in Bulgarien, in Sofia, Schipka, Plowdiw und vielen anderen Städten und Dörfern. Das Land hatte sich merklich verändert, es gab viele neue Stadtviertel, Eigenheime, Betriebe, Gewächshäuser und Straßen. Außerdem: Weinberge, Plantagen, auf denen Gemüse nach neuen Verfahren angebaut wurde, und ein ganzes Garten- und Blumenreich. Man konnte zusehen, wie sich das Land veränderte. Ich hatte den Eindruck, die Bulgaren machten es richtig. Woher sollte ich damals auch wissen, dass das Land über seine Verhältnisse lebte und dafür würde zahlen müssen?
Am schwierigsten war die Reise in die Tschechoslowakei im November 1969 . Zu meiner Delegation gehörten Ligatschow, damals Erster Sekretär des Gebietskomitees Tomsk, Pastuchow, Sekretär des ZK des Komsomol, und Schurawljow, stellvertretender Bildungsminister. Es sollte über die Perspektiven einer Jugendbewegung in der Tschechoslowakei gesprochen werden. Als wir ankamen, gab es dort 17 Jugendorganisationen, von denen nicht eine die Führungsrolle der Tschechoslowakischen Kommunistischen Partei anerkannte.
Auf einer Vielzahl von Treffen und heftigen Diskussionen in Prag, Brünn und Bratislava wurde debattiert, wie die Behörden das Vertrauen der Jugend wiedergewinnen könnten. Aber konnte man dieses Problem denn unabhängig vom Einmarsch der Truppen in Prag am 21 . 8 . 1968 betrachten? Zu sagen, wir fühlten uns nicht wohl in unserer Haut, ist stark untertrieben. Wir spürten, die gesamte Militäraktion wurde vom Volk
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