Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
Jahre gingen ins Land, dann war das Gleichgewicht wieder gestört, die Bauern verkauften ihre Lebensmittel praktisch umsonst und bezahlten für die Industrieproduktion horrende Preise. Die Wirtschaft der Kolchosen und Sowchosen ging den Bach herunter.
Ich stellte in meinem Bericht detaillierte Berechnungen an, aus denen hervorging, dass sich die Treibstoffpreise in dem Jahrzehnt von 1968 bis 1977 um 84 Prozent erhöht hatten, Sämaschinen und Traktoren waren anderthalb- bis zweimal, mitunter sogar viermal so teuer geworden, während sich die Verkaufspreise für landwirtschaftliche Produkte nicht verändert hatten. Infolgedessen hatten sich – trotz Steigerung der Ernte, Abnahme von Arbeitsaufwand und Treibstoffverbrauch – die Unkosten für Getreide und tierische Erzeugnisse stark erhöht, und die meisten Betriebe rentierten sich kaum oder verzeichneten Verluste. Doch selbst in dieser Situation ergriff man keine einschneidenden Maßnahmen, sondern führte lediglich einen Garantielohn ein, um die Menschen von der Landflucht abzuhalten. Das machte den letzten Resten wirtschaftlicher Rechnungsführung im Dorf den Garaus und untergrub jeden Anreiz zur Arbeit. Ziel meines Schreibens war zu zeigen, dass die eingerissene Betrachtung des Dorfes als »innere Kolonie« aufgegeben werden müsse, um katastrophale Folgen für das ganze Land zu vermeiden.
Kulakow schickte meinen Bericht mit meinem Einverständnis an die Mitglieder der Kommission, die das Plenum zur Landwirtschaft im Jahr 1978 vorbereitete. Kosygins Reaktion war vielsagend: »Das ist eine Bombe!«
Auch mein Auftritt auf der Plenartagung stand im Zusammenhang mit meinem Schreiben. Einige meiner Kollegen rieten mir vorher, mich nicht zu exponieren und mit dem Kopf durch die Wand rennen zu wollen. Ich hörte nicht auf sie. Ich war der Meinung, es müsse ein ernsthaftes, grundsätzliches Gespräch stattfinden. Doch meine Hoffnungen gingen nicht in Erfüllung, meine ursprüngliche Intention wurde total ausgehöhlt. Die Beschlüsse des Plenums beschränkten sich auf die ewigen Aufrufe, landwirtschaftliche Maschinen zu produzieren, während der ökonomische Aspekt völlig außer Acht blieb. Viel Lärm um nichts.
Am 4 . Juli 1978 war die Plenartagung zu Ende. Gleich danach, am 5 . Juli, feierten die Kulakows auf ihrer Datscha im Grünen ihren 40 . Hochzeitstag. Raissa und ich waren dazu eingeladen. Alles war wie immer an diesem Abend. Streng die Dienstordnung einhaltend, brachte jeder der Anwesenden einen Trinkspruch auf die Gastgeberin und den Gastgeber aus; in der Regel endete er mit der kategorischen Anweisung, »ex« zu trinken. Kulakows Gesundheit hielt diesen Lebenswandel und die damit einhergehenden Belastungen kaum mehr aus (man hatte ihm 1968 einen Teil des Magens entfernt).
Zwei Wochen später starb er unerwartet: Herzstillstand. Man erzählte mir, es habe am letzten Tag einen großen Familienkrach gegeben. Er war in der Nacht allein. Sein Tod wurde erst am Morgen bemerkt.
Kulakow starb, als er gerade einmal 60 Jahre alt war. Das war ein großer Verlust. Umso merkwürdiger war die Entscheidung Breschnews und anderer Mitglieder des Politbüros, ihren Urlaub nicht für den Abschied von ihrem Kollegen zu unterbrechen. Damals habe ich zum ersten Mal gemerkt, wie unglaublich fern sich eigentlich diese Menschen stehen, die das Schicksal an der Spitze zusammengeführt hat.
Kriminalität
In den Jahren meiner Tätigkeit als Sekretär des Regionskomitees erweiterte sich mein Bekanntenkreis enorm. Der größte Gewinn jener Jahre war der verständnisvolle und freundschaftliche Umgang mit vielen Menschen. Es gab allerdings auch Fälle, wo die Beziehungen aus den einen oder anderen Gründen abrissen, manchmal auch aus prinzipiellen Gründen, so im Fall des Innenministers Schtscholokow.
1973 gab es im Stawropoler Land gravierende Probleme mit der Kriminalität. Betrachtete man die Statistik, sah alles blendend aus: Was die Aufklärungsquote der Verbrechen betraf, so nahm die Region den 11 . Platz unter den mehr als 72 Gebieten ein. In den Herbstmonaten kam es im Stawropoler Land zu einigen brutalen Morden und Vergewaltigungen. Die Situation war alarmierend. Die Menschen waren in Panik und stellten zu Recht die Frage: Gibt es in der Region überhaupt noch eine Staatsmacht? Analysen der Situation und Appelle an die Sicherheitsorgane brachten nichts. Ich scharte deshalb im Regionskomitee der Partei alte pensionierte Juristen, zuverlässige, unabhängige
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