Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
Besonderes ist der Manytschsee mit seinen sich im Sand verlierenden Zuflüssen. Hier ist Naturschutzgebiet, es ist der liebste Rastplatz der Zugvögel aus dem Norden.
Im Sommer fuhren Raissa und ich abends gern in die Waldgebiete, die nicht weit von Stawropol entfernt waren. In der Regel wogten daneben im Juni endlose Weizenfelder. Wir lauschten gern dem Nachtgesang der Wachteln. Und obwohl es keine Wunschkonzerte waren, muss ich sagen: Viele heutige Konzerte liegen weit unter den Wachtelkonzerten.
Den größten Teil meines Lebens verbrachte ich in einer Steppengegend. Die Stadt Stawropol liegt auf der Stawropoler Anhöhe. Ihr höchster Punkt ist der Berg Strischament, der 831 Meter hoch ist. »Strischament« heißt auch ein altes bitteres Kosakengetränk, das aus 17 auf diesem Berg wachsenden Kräutern angesetzt wird.
Ich trage immer ein Stückchen Stawropol im Herzen. Jeder hat seine kleine Heimat. Für mich ist dieser Ort auf der Weltkarte, auf der Erdkugel mein Priwolnoje. Es ist lange her. Die Hütte am Dorfrand von Priwolnoje, in der ich aufwuchs und von der es 15 Schritte bis zur Salsker Steppe war, ist spurlos verschwunden.
Als ich meine ersten Memoiren schrieb, hatte ich das starke Bedürfnis, die mich prägenden lebendigen Erinnerungen an den Garten und das Haus, in dem ich aufgewachsen bin, mit Worten heraufzubeschwören. Als ich dann wieder einmal in Priwolnoje war, fuhr ich an den Dorfrand. Jetzt ist dort alles umgepflügt, und es wachsen Getreide und Gräser. Unsere alte Hütte und der Zaubergarten meiner Kindheit sind nicht mehr da …
Auf dem Dorffriedhof sind die Gräber meiner Großväter Andrej und Pantelej, meiner Großmütter Wasilisa und Stepanida, ihrer Söhne und Töchter, die Gräber meines Vaters und meiner Mutter. Meine Mutter starb achtzehn Jahre nach meinem Vater. In Moskau. Ich musste ihr versprechen, sie neben meinem Vater zu beerdigen. Das tat ich 1994 denn auch. Sie starb unmittelbar vor Ostern, in der Karwoche. Die Totenmesse fand in der kleinen Kirche von Priwolnoje statt, die die Dorfbewohner mit meiner Beteiligung gebaut hatten.
Maria Pantelejewna Gorbatschowa, Priwolnoje in den achtziger Jahren
Als ich in den letzten Jahren nach Priwolnoje kam, kannte ich nur noch wenige Leute vom Sehen, obwohl ich ihre Mütter, Väter, Großväter und Großmütter gut gekannt habe. Inzwischen sind neue Generationen herangewachsen. Das ist klar. Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass ich so alt werde. Und ich denke auch noch nicht daran zu sterben. Obwohl das natürlich nicht von mir abhängt. »Irgendwo da oben« liegt mein »Terminkalender«, und es ist nicht bekannt, wie lange ich noch zu leben habe. Aber ich finde, man muss so leben, als wäre dieser Tag der letzte. Darum beeile ich mich so, dieses Buch zu Ende zu bringen, obwohl ich es seit dem Augenblick, da Raissa starb, mit mir herumtrage.
Ich mag mich täuschen, aber mir schien, Irina und ihrem Mann Anatolij fiel die Trennung von Stawropol leichter als uns. Moskau lockte sie; an ihrem Getuschel und den ungeduldigen Blicken sah man, dass sie in Gedanken schon in der Hauptstadt waren. Sie beendeten das vierte Studienjahr am Medizinischen Institut und freuten sich, ihr Studium fortsetzen und mit einem Diplom des Moskauer Instituts für Medizin abschließen zu können. Ihr Leben stand noch ganz am Anfang.
Die Jahre, die ich in Stawropol verbracht habe, sind aus meinem Leben nicht wegzudenken. Nicht nur um Landwirtschaft und Industrie, auch um die Kurorte, Bildung, Medizin und Kultur, um all das hatte ich mich bemüht.
Die Modernisierung des Agrarsektors und der Genossenschaften sowie die Einführung neuer Produktionsverfahren waren ein gewaltiger Entwicklungsschritt. 1990 gab es in der Gegend praktisch keine unrentablen Betriebe mehr. Viele Kolchosen und Sowchosen hatten 10 bis 15 Millionen Rubel auf dem Konto.
Meine Berufstätigkeit nahm ich nach dem Studium in der Zeit nach Stalins Tod auf, als in meinem Land große Veränderungen vor sich gingen. Ich nahm unmittelbar an ihnen teil. Jene Jahre nenne ich »meine kleine Perestrojka«. Ich vertraute meinen Kräften und spürte, dass ich große Verantwortung übernehmen kann. All das flößte mir Selbstsicherheit ein und wirkte sich auf meine Entscheidung aus, als man mir die Arbeit in der Führung des ZK der Kommunistischen Partei anbot.
Am Abfahrtstag wollten Raissa und ich uns von Stawropol verabschieden. Wir setzten uns ins Auto und fuhren vom historischen
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