Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
verurteilt und abgelehnt.
Ganz Prag wirkte wie gelähmt und erstarrt. Die Kollegen konnten uns nicht zu den Arbeitern führen, denn sie trauten sich selbst nicht dahin. Wir fragten, warum sie nicht ins Volk gingen – und bekamen zur Antwort: »Wenn wir eine Analyse gemacht haben, tun wir das.« Sie wussten nicht, was sie den Menschen sagen sollten, sie fürchteten sie einfach.
Am Vorabend des Studententags waren wir in Brünn, wo man die Besichtigung eines Großbetriebes für uns organisieren wollte. Als wir in die Halle kamen, wollte keiner mit uns sprechen, die Arbeiter reagierten nicht auf unsere Begrüßungen, sie wandten sich demonstrativ ab, ein sehr unangenehmes Gefühl. Die Mehrheit der Mitglieder des Parteikomitees dieses Betriebs bewertete das Vorgehen der sowjetischen Führung total negativ. Es stellte sich heraus, dass die Belegschaft des Werkes im August 1968 die Regierung Dubček unterstützt hatte und man, um ihren Widerstand zu brechen, auf dem Werkgelände Truppen hatte aufmarschieren lassen müssen. Im August 1969 flackerten in Brünn die Massendemonstrationen gegen das Regime und die sowjetische Einmischung wieder auf. Die Atmosphäre war gespannt, unsere Delegation musste rund um die Uhr von bewaffneten Posten bewacht werden.
Bratislavas Aussehen erstaunte uns. Fast alle Häuser im Zentrum hatten Einschusslöcher, die Mauern waren mit antisowjetischen Parolen bemalt. Unsere Delegation wurde von Václav Slavík, dem Ersten Sekretär des ZK der Slowakischen Kommunistischen Partei, empfangen. Alles begann friedlich, aber als jemand von unserer Seite in Erinnerung rief, dass Lenin, der für den Föderalismus des Staates eintrat, ihn für den Parteiaufbau aber kategorisch ablehnte, stand der Erste Sekretär auf und verließ den Raum. Am nächsten Morgen erschien keiner von der Leitung, ein Bekannter aus dem Apparat des ZK der Tschechoslowakischen Kommunistischen Partei half uns. Am Mittag bestiegen wir den Devin-Berg, wo die sowjetischen Soldaten begraben sind, die bei der Befreiung der Slowakei ums Leben kamen. Wir verneigten uns und schwiegen. Es war ein warmer sonniger Tag. Unten glitzerte die Donau, in der Ferne schimmerten die Kuppeln der Kathedralen von Wien. Ich verließ Bratislava nachdenklich und in Sorge.
In den siebziger Jahren reiste ich auch nach Italien, Frankreich, Belgien und in die Bundesrepublik Deutschland. Mal war ich Teil einer offiziellen Delegation, mal war ich von der Kommunistischen Partei dieser Länder als privater Urlauber eingeladen worden. Die Erholungsreisen waren länger, und wir hatten mehr Möglichkeiten, Land und Leben kennenzulernen.
Alle diese Reisen, egal aus welchem Anlass, waren für mich vor allem interessant, da wir äußerst wenig Information aus dem Ausland bekamen und sie stark gefiltert wurde. Lieferungen von Zeitungen, Zeitschriften, Büchern und Filmen wurden streng kontrolliert, die Radiosendungen wurden gestört. Der Auslandstourismus jener Jahre beschränkte sich auf osteuropäische Länder. Um in den Westen reisen zu können, musste man eine strenge Kontrolle auf ideologische Zuverlässigkeit über sich ergehen lassen – sodass der »Eiserne Vorhang« nicht nur eine literarische Metapher war. Man hatte ihn sowohl auf der Gegenseite als auch bei uns heruntergelassen.
Abschied
Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, der Abschied von Stawropol fiel mir schwer. Ja, ich liebte und liebe diese Gegend, die Steppen, Schluchten, Buschwälder und natürlich das Vorgebirge und die Berge, in die wir bei jeder Gelegenheit mit der Familie fuhren. Vor allem ins Archys- und Dombajgebirge, nach Pjatigorsk, Kislowodsk und Schelesnowodsk. Wir waren einfach mit dieser Gegend verwachsen. Man könnte meinen: Was soll an dieser dürren Steppe, die 44 Prozent der Fläche ausmacht, denn gut sein? Für die Bauern ist das einfach eine Katastrophe.
Aber im Frühling, Frühsommer und Herbst bietet die Steppe ein unglaubliches Schauspiel: Farben, Gerüche, Stille und Unendlichkeit. Ende Mai bedeckt sich die ganze Steppe, angefangen von der Salsker über die kalmückische bis zur Wolgasteppe, mit einem Blumenteppich aus Steppentulpen, die man im Stawropoler Land »Blaublümchen« nennt. Und im Winter – wie oft war ich auf diesen Steppenwegen bei Schneesturm mit dem Geländewagen in den Schneewehen steckengeblieben.
Im Stawropoler Land gibt es viele kleine Flüsse, an denen man immer bequem Platz finden, im Schilf sitzen und sogar angeln kann.
Etwas ganz
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