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Allmen und die verschwundene María

Allmen und die verschwundene María

Titel: Allmen und die verschwundene María Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Suter
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mehr als einen Daumenbreit in die vier besten Kristallschwenker. Dann zog er die Vorhänge zu und zündete die Kerzen an. In Marías Manteltasche fand er ein Päckchen Zigaretten. Er steckte eine an und schob sie in den [32]  hölzernen Mund der Puppe. Er tauchte drei Finger in den Armagnac, bespritzte den Heiligen und faltete die Hände.
    An den Anfang des Gebetes erinnerte er sich: » Con todo mi respeto, mit all meinem Respekt, meiner Demut und meiner Liebe, Maximón, flehe ich Dich an.«
    Ab da musste er improvisieren. Aber das war nicht schwer. Es ging um seine María. Noch nie hatte er einen Menschen so geliebt wie sie.
    Er bat den seltsamen Heiligen, sie zu beschützen und dafür zu sorgen, dass er sie bald wieder gesund und heil in die Arme schließen könne.
    6
    Wie immer nach einer Katastrophe kam ihm die Unerschütterlichkeit der Welt grausam vor. Die Goldenbar fühlte sich an wie stets um diese Zeit: halbleer und still und frisch gelüftet. Der Barpianist hatte seine Schicht noch nicht angetreten, der alte spanische Barmann klirrte diskret mit Flaschen und Gläsern, und der Barkellner lehnte neben der Registrierkasse und behielt die Gäste im Auge.
    Der Barmann hatte bei Allmens Eintreten nach dem Shaker gegriffen, doch Allmen winkte ab. So [33]  viel Normalität wollte er der Goldenbar nicht zugestehen, dass er sich jetzt auch noch die übliche Margarita mixen ließ. Er nahm an einem der Nischentische Platz. Sofort setzte sich der Barkellner in Bewegung.
    »Etwas zum Warten«, sagte Allmen.
    Der Kellner nickte und ging zum Barmann. Allmen sah, wie die beiden zwei Worte wechselten. Kurz darauf brachte ihm der Kellner ein Schälchen mit warmen Mandeln und ein Glas Sherry. »Tío Pepe, fino, das Beste fürs Warten, sagt Jorge.«
    Allmen nahm einen kleinen Schluck. Jorge verstand sein Handwerk. Für einen winzigen Augenblick stellte sich das Gefühl ein, das ihn überkam, wenn alles stimmte und er mit sich und der Welt im Reinen war.
    Er war froh gewesen, dass er einen Grund hatte, aus dem Haus zu gehen. Carlos’ Niedergeschlagenheit bedrückte ihn, und die Rolle des Starken und Trösters lag ihm nicht. So genoss er es, in seiner Lieblingsbar an seinem Sherry zu nippen und das zu tun, was ihm so leicht keiner nachmachte: die Wirklichkeit verdrängen.
    Doch da ging die Tür auf, und die Wirklichkeit in Gestalt von Cheryl Talfeld kam herein. Allmen erhob sich, half ihr aus dem Mantel und reichte ihn dem Kellner.
    [34]  Cheryl sah zu ihm hoch und küsste ihn auf die Wangen. »Das letzte Mal haben wir uns so verabschiedet.«
    Sie trug ein neues Parfum, das er aber nicht benennen konnte, obwohl er gut war in Parfums. Ihr Make-up kam ihm weniger unnachsichtig vor als bei ihren früheren Treffen.
    Er wartete, bis sie sich gesetzt hatte. »Manhattan?«
    Sie lächelte. »Überredet.«
    Allmen bestellte zwei. Der Kellner entfernte sich, Cheryl lehnte sich im Lederpolster zurück und sagte. »Jetzt bin ich aber gespannt.«
    Sie lächelte ihn so erwartungsvoll an, dass Allmen klar wurde, wie falsch sie seine Einladung interpretierte. Er hatte vorgehabt, das Gespräch mit den Worten »Ich brauche die Dahlien« zu eröffnen. Aber jetzt suchte er nach einer diplomatischeren Eröffnung.
    Er verstieg sich zu einer etwas geschraubten Feststellung: »Ich fürchte, unser Treffen ist das einzig Angenehme an den Vorkommnissen, die zu diesem geführt haben.«
    Cheryl wusste nicht, ob sie den Satz als Kompliment verstehen sollte, und behielt ihr Lächeln auf.
    »Ich hätte Sie ohnehin dieser Tage angerufen«, fuhr Allmen fort.
    [35]  Cheryl nickte ihm aufmunternd zu.
    »Aber jetzt ist etwas vorgefallen, das eine Begegnung dringend, noch dringender…«
    Sie betrachtete ihn lächelnd mit leicht zur Seite geneigtem Kopf.
    Allmen gab auf. »Ich brauche die Dahlien.«
    In diesem Augenblick brachte der Barkellner die Drinks. Aber Cheryl Talfeld war zu überrascht, um zu warten, bis sie wieder unter vier Augen waren.
    »Die Dahlien? Das Bild? Den Fantin-Latour von Madame Gutbauer?« Sie wollte sicher sein, dass sie ihn richtig verstanden hatte.
    Allmen antwortete mit einer hilflosen Geste.
    Cheryl Talfeld brach in Gelächter aus. Es hallte unpassend laut durch die stille Bar. Köpfe wandten sich in ihre Richtung.
    Allmen lächelte verlegen mit, bis Madame Gutbauers persönliche Assistentin sich beruhigte. Sie sagte kopfschüttelnd: »Einen Moment lang habe ich es Ihnen geglaubt«, griff zum Glas und prostete ihm zu. »Cin

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