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Allmen und die verschwundene María

Allmen und die verschwundene María

Titel: Allmen und die verschwundene María Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Suter
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befürchteten sie Schlimmes.
    Es traf am nächsten Tag ein. Ein Entführer rief an und forderte als Lösegeld – die Dahlien.

[9]  Erster Teil
    1
    »Nun gehen Sie schon, Pflegefachfrau Duttli!« Monika Duttli stand unschlüssig in der Tür. Schließlich ging sie. Wenn Dalia Gutbauer sie »Pflegefachfrau Duttli« anstatt »Schwester Monika« nannte, war es Zeit, die Waffen zu strecken.
    Die alte Frau hatte ihr den Rücken zugewandt. Als die Tür ins Schloss fiel, ruckte sie ihr Gehgestell in Richtung Bett und bewegte sich darauf zu.
    Dalia Gutbauer hatte das in schwarzem Lack und poliertem Ebenholzfurnier gearbeitete Art-déco-Bett mit dem nach hinten gewölbten Kopfteil als junge Frau bei einer Auktion in Paris ersteigert und sich ihr ganzes bewegtes Leben nicht mehr davon getrennt. Jetzt benutzte sie es nicht mehr. Sie schlief in einem anderen Zimmer in einem Hightechkrankenhausbett, dessen Mechanik und Elektronik es ihr erlaubten, sich noch immer ohne Hilfe schlafen zu legen und auch selbständig aufzustehen.
    [10]  Für das Art-déco-Bett mit der dicken Matratze, dessen Kopfende man nicht hochklappen konnte, war sie inzwischen zu klein, krumm und unbeweglich geworden. Sie schaffte es nur noch, sich halb sitzend, halb stehend an die Bettkante zu lehnen.
    Das tat sie jetzt und richtete ihren Blick auf die Wand mit den fünf Bildern, von denen jedes im Licht eines Spots erstrahlte. Die schweren schwarzweißen Seidenvorhänge mit dem geometrischen Muster waren zugezogen, kein Tageslicht drang in den Raum. Vier der Bilder waren Porträts, die sie in verschiedenen Lebensphasen zeigten. Sie hatte sie immer gemocht, weil sie die Künstler gemocht hatte: Niklaus Stoecklin, Rudolf Schlichter, Meredith Frampton und Gertrude Abercrombie. Die Künstler waren das Einzige, was sie mit den Werken verband. Mit der Frau, die sie zeigten, hatte sie nie etwas zu tun gehabt.
    Die Gemälde waren Erinnerungen an Menschen und Orte. An den Geruch nach Ölfarben, Firnis und Zigaretten. An Niki Stoecklin und seine seltsame Basler Fasnacht. An Gertrude Abercrombie und eine Jamsession mit Charlie Parker. An Rudolf Schlichter und die Schönheitstänzerinnen der Münchner Bongo Bar. Und an den langsam erblindenden Meredith Frampton und die langen Sitzungen in seinem eleganten Studio in St.   John’s Wood.
    [11]  Dalia Gutbauer angelte sich die Fernbedienung vom Nachttisch und schaltete die Spots aus, einen nach dem anderen, bis nur noch das Dahlienbild von Henri Fantin-Latour hell aus der jetzt dunklen Wand hervorstach.
    Schon immer war das Dahlienporträt dasjenige der fünf Bilder gewesen, in dem sie sich am ehesten wiedererkannte. Jede der großen Blüten stellte einen anderen ihrer Gemütszustände und eine andere ihrer Wesensarten dar. Die unbeschwerte Weiße zuoberst neben der kühlen Hellroten und der mondänen Purpurnen, die die geheimnisvolle Blutrote halb verdeckte. Die schüchterne Rosafarbene, die ihre Unschuld mit dem lasziven Himbeerrot ihrer Nachbarin etwas kaschierte. Die arglistige Gelbe, die hinter ein paar Blättern lauerte. Und schließlich die angewelkte Weiße, die schwer über den Vasenrand hing, üppig und verdorben.
    Doch jetzt war ihr das Bild fremd geworden. Sie erkannte sich darin noch weniger als in den vier Porträts daneben. Es war, als hätte der zweite Diebstahl es entweiht.
    Dalia Gutbauer drückte auf eine andere Taste der Fernbedienung. Einen Augenblick später klopfte es, und der Butler betrat das Schlafzimmer.
    Sie deutete mit ihrem krummen Zeigefinger auf die Wand. »Das Bild, bitte, Louis.«
    [12]  Monsieur Louis zögerte.
    »Hierher.« Sie tätschelte gereizt die Matratze neben sich.
    Er ging zum Gemälde, nahm es von den beiden Haken, legte es neben sie aufs Bett und sah sie erwartungsvoll an.
    »Danke. Das wäre alles.«
    Monsieur Louis sah aus, als wollte er etwas sagen.
    Die alte Frau kam ihm zuvor. »Sie können gehen.«
    »Wünschen Sie Ihr Mittagessen hier?«
    »Ich klingle, falls ich Sie brauche.«
    Er zog sich zurück.
    Das Zimmer lag jetzt im Licht des einzigen Spots, der die leere Stelle zwischen den Porträts erhellte. Die Farben des Bildes, das nun neben Dalia Gutbauer lag, hatten ihre Leuchtkraft verloren, und die Dahlien hoben sich nur noch durch ihre Grauwerte voneinander ab.
    Das Bild war ihr nicht nur fremd geworden, es widerte sie an. Es erinnerte sie zwar noch immer an Leo Taubler, den Mann, der es vor bald sechzig Jahren für sie gestohlen hatte. Aber nun war es seine greise

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