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Allmen und die verschwundene María

Allmen und die verschwundene María

Titel: Allmen und die verschwundene María Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Suter
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Inquiries.«
    Jetzt befahl eine Stimme barsch: »Scriva!« Schreiben Sie auf!
    [40]  Carlos holte seinen Kugelschreiber aus der Brusttasche des Sakkos.
    » Posso cominciare ?«
    » Sì .«
    » Latitudine .«
    Carlos schrieb das Wort auf das oberste Blatt eines Notizblocks.
    » Va bene ?«, fragte die Stimme.
    Als Carlos bestätigte, fuhr sie fort zu diktieren. Langsam und jedes Wort deutlich betont: » Quarantasette gradi. Ventisei minuti. Ventisette punto quarantanove secondi Nord .«
    Carlos sprach kein Italienisch, aber wie die meisten Spanischsprechenden verstand er es einigermaßen. Am Schluss stand auf seinem Notizzettel:
    Latitudine 47 gradi 26 minuti 27 punto 49 secondi Nord.
    Longitudine 8 gradi 30 minuti 52 punto 29 secondi Est. 28 aprile ore 10   :   00.
    » Capito ?«, fragte die Stimme.
    » Sì «, antwortete Carlos.
    » E con le dalie !«, fügte der Anrufer drohend hinzu.
    » Dammi il numero del telefonino di Allmen .«
    Carlos diktierte ihm die Handynummer von Allmen. Der Anrufer wiederholte sie, sagte: »Okay«, und wollte auflegen.
    [41]  »¡Espera!«, rief Carlos, warten Sie. »¡María! Hablar! Sprechen! Parlare!«
    Nach einem Augenblick vernahm er ihre schwache Stimme. »Señor John«, fragte sie.
    » ¡Soy yo, mi vida! Carlos!«, schrie er.
    Sie schrie auf. »¡Yalmha!« Die Verbindung wurde getrennt.
    Der Rauch der gelöschten Kerzen vermischte sich mit dem von Marías Zigarette, die im hölzernen Mund von Maximón steckte.
    Maximón hatte ihn erhört. María lebte. Bald würde er sie in die Arme schließen können. Er kniete nieder und faltete die Hände. »Gracias, oh poderoso Maximón, gracias.«
    Wie als Antwort auf sein Dankesgebet fiel der lange Aschezylinder von der Zigarette und hinterließ eine hellgraue Spur auf der schwarzen Hose der Puppe.
    Carlos rappelte sich auf und stellte Allmens Nummer ein.
    8
    Carlos’ Anruf erreichte Allmen in Herrn Arnolds Cadillac. Sie waren auf dem Nachhauseweg durch die Tempo-dreißig-Zone des Villenhügels. Die [42]  Straßenlampen hatten sich schon eingeschaltet, obwohl die Dämmerung noch nicht eingesetzt hatte.
    Wie immer, wenn Allmens Handy in Herrn Arnolds Wagen klingelte, entschuldigte er sich. Und wie immer wehrte Herr Arnold die Entschuldigung entrüstet ab.
    »Llamaron«, sagte Carlos nur.
    Allmen atmete auf. In ein paar Minuten sei er zu Hause, beruhigte er ihn.
    Er legte auf und bedankte sich gewohnheitsmäßig bei Herrn Arnold für die Erlaubnis, telefonieren zu dürfen. Wieder winkte der Fahrer heftig ab.
    Schon von weitem sah er Carlos. Er wartete vor dem schmiedeeisernen Tor der Villa Schwarzacker. Einer der beiden Spots, die das Tor wie eine Skulptur ausleuchteten, erhellte auch seine tiefschwarz glänzende Frisur. Ein paar Haare standen in alle Richtungen, und eine Strähne fiel ihm ins Gesicht. So ungekämmt hatte Allmen ihn noch nie erlebt. Nicht einmal während der schwersten Gartenarbeit für K, C, L & D, die Treuhandfirma, deren Firmensitz Allmens Villa mittlerweile war.
    Carlos öffnete die Wagentür und steckte ihm, noch während Allmen Herrn Arnold entlohnte, die Telefonnotiz zu. Noch im Auto studierte er sie.
    »Coordenadas«, erklärte Carlos.
    Dass es sich um Koordinaten handelte, war [43]  Allmen sofort klargeworden. »Und das Datum, Carlos, achtundzwanzigster April?«, wollte er wissen.
    »Dann müssen wir an diesem Ort sein, Don John. Morgen. Um zehn Uhr früh. Mit dem Bild, Don John?« Er sah Allmen argwöhnisch an. »Wir bekommen doch das Bild, Don John?«
    »Lassen Sie uns ins Haus gehen, Carlos.«
    Der kleine Mann nickte resigniert und folgte Allmen schweigend auf dem Plattenweg zum Gärtnerhäuschen hinter der Villa.
    Der Abend hatte eine Kaltfront gebracht, und es fielen erste Regentropfen. Aus einem Flieder nahe am Weg flog schimpfend eine Amsel auf.
    Das kleine Gebäude und sein zur Bibliothek umfunktioniertes Treibhaus boten ein ungewohntes Bild: Keines der Lichter, die Carlos sonst zu Allmens Begrüßung brennen ließ, war an. Das Gärtnerhäuschen lag ernst und finster unter dem uralten Baumbestand, wie in Trauer.
    Auf der Eingangstreppe ging Carlos vor, öffnete die Haustür und machte Licht im Vestibül. Er half Allmen wie immer aus dem Mantel, ging ihm voraus durchs Wohnzimmer in die Bibliothek und wartete, bis Allmen ihm einen der zwei Ledersessel angeboten hatte.
    Normalerweise würde Carlos jetzt im [44]  Schwedenofen mit einem einzigen Streichholz ein Feuer entfachen. Aber nichts war mehr normal.

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