Allwissend
Ein Teil der Abwehrbereitschaft war wieder da; sie konnte den Stress aus seiner Körperhaltung ablesen. »Ich habe die Nachrichten verfolgt. Die Presse behauptet, dieses Mädchen wurde überfallen, weil es etwas in dem Blog gepostet hat. Die Poster fangen an, das Gleiche zu schreiben. Und nun wollen Sie den Namen des Jungen.«
»Nein. Den kennen wir bereits.«
»Ist er derjenige, der versucht hat, das Mädchen zu ertränken?«
»Es scheint so.«
»Ich habe nicht ihn angegriffen«, versicherte Chilton eilends. »Ich wollte hinterfragen, ob die Polizei die Ermittlungen vorschnell eingestellt hat und ob der Zustand der Straße ordnungsgemäß von Caltrans überwacht wurde. Ich habe von vornherein geschrieben, ihn treffe keine Schuld. Und ich habe seinen Namen zensiert.«
»Dennoch hat sich binnen kürzester Zeit ein Mob gebildet und die Identität des Jungen herausgefunden.«
Chiltons Mundwinkel zuckten. Er fasste den Kommentar als Kritik an seiner Person oder dem Blog auf, was nicht Dances Absicht entsprach. Aber er räumte ein: »So was kommt vor. Nun, was kann ich denn dann für Sie tun?«
»Wir haben Grund zu der Annahme, dass Travis Brigham gegen die anderen Leute vorgehen könnte, die ihn mit ihren Beiträgen angegriffen haben.«
»Sind Sie sicher?«
»Nein, aber wir müssen es als Möglichkeit in Betracht ziehen.«
Chilton verzog das Gesicht. »Ich meine, können Sie ihn denn nicht verhaften?«
»Wir suchen nach ihm. Wir sind uns nicht sicher, wo er sich aufhält.«
»Ich verstehe«, sagte Chilton langsam. Dance konnte aus seinen angehobenen Schultern und dem steifen Hals ersehen, dass er sich fragte, was genau sie eigentlich wollte. Sie dachte an Jon Bolings Rat.
»Ihr Blog ist auf der ganzen Welt bekannt«, sagte sie. »Es genießt hohes Ansehen. Das ist einer der Gründe, weshalb so viele Leute dort posten.«
Sein freudiger Blick war nur kurz, doch er entging Dance nicht. Sie erkannte, dass James Chilton ihr sogar offene Schmeichelei abkaufte.
»Das Problem ist, dass jeder Poster, der Travis angreift, ein potenzielles Opfer darstellt. Und ihre Zahl nimmt stündlich zu.«
»Der Report hat eine der höchsten Besucherzahlen des ganzen Landes. Er ist das meistgelesene kalifornische Blog.«
»Das überrascht mich nicht. Ich bin selbst eine begeisterte Leserin.« Sie steuerte ihr Verhalten ganz bewusst, um die Täuschung nicht durch Gestik oder Mimik zu verraten.
»Vielen Dank.« Zu den Fältchen rund um die Augen gesellte sich ein breites Lächeln.
»Doch verstehen Sie bitte unsere Schwierigkeiten: Wann immer jemand einen Beitrag zu dem Thread >Kreuze am Straßenrand< hinzufügt, wird er zu einem möglichen Ziel. Manche der Leute sind vollkommen anonym, andere wohnen nicht in dieser Gegend. Wieder andere jedoch halten sich ganz in der Nähe auf, und wir befürchten, dass Travis in der Lage sein könnte, ihre Identität herauszufinden. Und dann wird er auf sie losgehen.«
»Oh«, sagte Chilton, und sein Lächeln verschwand. Sein wacher Verstand zog die Schlussfolgerung von selbst. »Und Sie sind hier wegen der Internetadressen der Leute.«
»Nur zu ihrem Schutz.«
»Ich kann diese Daten nicht herausgeben.«
»Aber die Leute sind in Gefahr.«
»Unser Land folgt dem Prinzip der Trennung von Medien und Staat.« Als würde ihr Standpunkt durch diese banale Feststellung geschwächt.
»Das Mädchen wurde in einen Kofferraum geworfen und zum Ertrinken zurückgelassen. Travis könnte in diesem Augenblick den nächsten Überfall planen.«
Chilton hob einen Finger und brachte sie wie ein Lehrer zum Schweigen. »Das ist ein schlüpfriges Terrain. Agent Dance, für wen arbeiten Sie? Wer ist Ihr oberster Chef?«
»Der Generalstaatsanwalt.«
»Okay, gut, mal angenommen, ich gebe Ihnen die gewünschten Adressen. Dann kommen Sie nächsten Monat zu mir und bitten um die Adresse eines Informanten, der vom Generalstaatsanwalt gefeuert wurde, weil er... äh, sagen wir, andere gemobbt haben soll. Oder Sie möchten wissen, wer einen kritischen Kommentar über den Gouverneur gepostet hat. Oder über den Präsidenten. Oder - wie wär's damit? - es geht Ihnen um jemanden, der etwas Vorteilhaftes über al-Qaida sagt. Ihr Argument wird lauten: >Sie haben mir die Informationen doch auch letztes Mal gegeben. Warum nicht jetzt?<« »Es wird kein weiteres Mal geben.«
»Das behaupten Sie zwar, aber...« Als würden Behördenangestellte bei jedem Atemzug lügen. »Weiß dieser Junge, dass Sie hinter ihm her
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