Alphawolf

bedrohliche Geste, jedoch keine tödliche.
    Spürte sie Krallen? Tala war irritiert. Sie sah Claw an, als könnte sie die Antwort in seinem Gesicht finden. Nein, nein, sie musste sich irren. Und doch, irgendetwas Spitzes drückte sich in ihren Hals.
    «Ich weiß, dass du Dante gesehen hast.» Claw neigte sich vor und schnupperte an ihrer Halsbeuge. «Ich rieche deine Angst. Du lügst.»
    Durch sein Schnüffeln kam ihr noch ein Detail in den Sinn. Die Schnauze. Als sie am Fenster des Krankenhauses gestanden hatte, glaubte sie für Sekunden, dass das Wesen, das auf zwei Beinen flüchtete, eine Schnauze gehabt hatte. Doch die Nacht und der Schneefall mussten ihr einen Streich gespielt haben. Hatte sie gedacht. Aber nun war sie sich nicht mehr sicher. Vielleicht hatte sie sich ja doch nicht getäuscht. Wenn Claw tatsächlich Krallen besaß, konnte Dante Fell und eine Schnauze haben.
    Tala war völlig durcheinander. Sie schüttelte den Kopf. Ihr Blick schweifte zu ihrem Bücherregal. Zu den Sachbüchern. Über die indianische Kultur Alaskas. Über verschiedene Tierrassen. Und über Wölfe. Daneben reihten sich Romane. Über Vampire. Gestaltwandler. Und Werwölfe. Fiktion, oder doch nicht? Im Regal darunter standen ihre DVDs. X-Men. American Werwolf. Wolf, das Tier im Manne.
    «Das kann nicht wahr sein.» Sie erschrak über ihre eigenen Worte, denn sie meinte nur ausgeatmet zu haben. Die Worte waren von selbst über ihre Lippen gekommen.
    Lippen, denen Claw nun gefährlich nah kam. Er war nur wenige Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt. Aber er schwieg und gab ihr Zeit, ihren Gedanken nachzugehen, damit sie die Fakten ordnen, auswerten und zu einem Ergebnis kommen konnte.
    Aber Tala wurde schwindelig von dem Chaos in ihrem Kopf. Ihre Gefühle fuhren Achterbahn. Sie dachte an Wolverine, seine hochsensiblen Sinne, seine erhöhte Ausdauer und Beweglichkeit. Ein Mann mit solchen Fähigkeiten könnte sich gegen ein Rudel Wölfe durchsetzen. Aber er lebte in Comics und Filmen und war nicht real. Die Krallen an ihrer Kehle waren es jedoch. Wie Wolverine drei Klingen besaß, die aus seinem Handrücken herausfahren konnten, hatte Claw Krallen, die aus seinen Fingerspitzen wuchsen. Wolverine war ein mutierter Mensch. Was war Claw? Was Rufus, Lupus und die anderen Männer, die in ihrer Wohnung standen und sie bedrohten?
    Als hätte Claw ihre Gedanken mitverfolgt, wisperte er: «Ja, wir sind Werwölfe.»
    Tala schüttelte den Kopf. Ihr Kopf sagte ihr, dass das unmöglich war, aber ihr Gefühl zweifelte. Claw glaubte, was er sagte, das spürte sie, aber sie war ein rationaler Mensch, zumindest zur Hälfte. Jedoch das indianische Blut ihrer Mutter, das in ihr floss, erinnerte sie an die Mythologie, an all die Riten und die Tradition. Ihre Vorväter hüllten sich vor der Jagd in ein Wolfsfell ein, vollzogen eine Zeremonie, damit auch sie zum Wolf wurden, sein Jagdinstinkt auf sie überging und sie in den Wäldern unsichtbar wurden – aber das war sinnbildlich gemeint. Die Jäger wechselten nicht tatsächlich die Gestalt, sondern sammelten ihre Kräfte. Uraltes Motivationstraining. Oder hatte Tala einfach nur den Glauben an ihre Kultur verloren?
    «Wirst du mich wirklich töten?», fragte sie leise, um nicht länger über Gestaltwandler nachdenken zu müssen. Ihr war schon ganz übel.
    «Du hast einen Rotwolf mit nach Hause genommen und einen nackten Jungen in deinem Wohnzimmer vorgefunden», begann Claw und bohrte seine Krallen tiefer in ihren Hals, sodass Tala ihr Kinn anhob, doch sie konnte seinem Griff nicht entkommen. «Du hast die Bestie Dante gesehen. Die Gesellschaft der Werwölfe ist zu fragil, um Zeugen am Leben zu lassen. Zuerst macht nur ein Gerücht die Runde, es folgt Panik und dann beginnt die Jagd. Das Risiko ist zu groß. Es darf nichts auf uns hinweisen, nicht einmal ein Gerücht. Deshalb müssen wir Dante ausschalten.»
    «Und mich?» Ihre Augen wurden feucht. Sie packte das Messer fester, aber es nutzte ihr nichts. Claw war nicht nur ein starker Mann, sondern auch ein Inbegriff an Entschlossenheit.
    Plötzlich tauchte Lupus neben Claw auf, doch er sah Tala an. «Dein Name ist Tala, nicht wahr? Tala Cocoon.»
    «Was willst du, Lupus?», fauchte Claw ihn an, bevor Tala seine Frage bejahen konnte.
    «Ihr Vorname ist indianisch», erklärte Lupus mit einer Ruhe, die Tala beeindruckte. Er schien Respekt vor seinem Anführer zu haben, aber ließ sich diesmal nicht das Wort verbieten. «Er bedeutet Wolf.»
    Etwas